Der Niedergang der Psychosomatik im Post-Neoliberalismus

Vom Bedeutungsverlust einer medizinischen Disziplin

🗓️ 20.6.2025

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Ein Schwarz-Weiß-Foto einer mächtigen, beschädigten Betonwand mit der Aufschrift "10 B". Im Hintergrund ist eine weitere Wand mit der Aufschrift "11 B".

Was geschieht mit einer medizinischen Disziplin, wenn die politischen und gesellschaftlichen Umstände, von der diese Disziplin profitierte, sich auflösen? Diese Frage stellt sich gegenwärtig für die Psychosomatik, oder genauer: für die Institutionen der Psychosomatik. Diese Institutionen, von kleinen psychosomatischen Arztpraxen bis zu großen psychosomatischen Kliniken, sind in ihrem Zuschnitt und ihrem Umfang Ausdruck der Epoche des „Neoliberalismus“. Doch der Neoliberalismus hat seinen Status als vorherrschendes ideologisches Paradigma eingebüßt und geht in einen „Post-Neoliberalismus“ über, der allmählich an Kontur gewinnt. Mit dieser neuen Epoche gehen weitreichende Veränderungen einher, die sich auf das Gesundheitssystem und den Status von Kranken in einem umfassenderen Sinn auswirken.

 

Dieser Text beschreibt ein Szenario, in dem die psychosomatischen Institutionen im Post-Neoliberalismus von einem Niedergang gekennzeichnet sind. Für eine solche Entwicklung sprechen mehrere Faktoren: ein von der Psychosomatik vorangetriebener Individualismus, der eine Selbstrelativierung psychosomatischer Institutionen impliziert; eine Verschiebung des kulturellen „Wissens“, die die Notwendigkeit dieser Institutionen in Frage stellt; eine schlechtere Wirksamkeit der Legitimationsstrategie dieser Institutionen innerhalb eines schrumpfenden kollektiven Gesundheitssystems; sowie die Ersetzung dieser Institutionen durch persönliche Gesundheitsdienstleistungen und Technik. Zusammengenommen lassen diese Faktoren erwarten, dass die psychosomatischen Institutionen an Umfang und Bedeutung verlieren. Etliche von ihnen werden voraussichtlich ganz verschwinden.

 

Der Post-Neoliberalismus stellt in vielerlei Hinsicht eine hochproblematische Epoche dar. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf Kranke einschließlich der Betroffenen der Myalgischen Enzephalomyelitis/des Chronischen Fatigue-Syndroms (ME/CFS). Der Niedergang der psychosomatischen Institutionen als Einzelaspekt innerhalb des Post-Neoliberalismus bedeutet für die ME/CFS-Betroffenen jedoch keinen Verlust. Sie sind seit Jahren mit einer individualistisch zugespitzten „biopsychosozialen“ Ausprägung der Psychosomatik konfrontiert, die erhebliches Leid hervorbringt. Vor diesem Hintergrund könnte die schwindende Macht der psychosomatischen Institutionen eine Gelegenheit eröffnen, dieses dunkle, ungesehene Kapitel aufzuarbeiten – und es zu beenden. Dieser begrüßenswerte Einzelaspekt macht den Post-Neoliberalismus gleichwohl nicht zu einer insgesamt begrüßenswerten Epoche.

 


Der doppelte Individualismus der Psychosomatik

 

Die Psychosomatik legt in ihrem weltanschaulichen und medizinischen Ansatz einen doppelten Individualismus zugrunde: einen methodischen und einen normativen. Methodisch geht die Psychosomatik davon aus, dass die Ursachen von Krankheit in der erkrankten Person selbst oder genauer in ihrer „Psyche“ zu verorten seien. Die Psyche des Individuums wird als kausal für körperliche („somatische“) Pathologien betrachtet, und darüber hinaus wird innerhalb der Person eine Wechselwirkung zwischen psychischen und körperlichen Entitäten postuliert. Folglich stellt das Individuum in der Psychosomatik die wesentliche Einheit bei der Analyse und Behandlung von Krankheit dar. Normativ adressiert die Psychosomatik die einzelne Person mit der Vorgabe, für den Umgang mit Krankheit und für deren Bearbeitung maßgeblich selbst verantwortlich zu sein. Das Individuum soll nicht passiv auf externe Lösungen, auf die „Gnade Gottes“ oder sonstige Fügungen des Schicksals warten, sondern die Verbesserung seiner gesundheitlichen Lage durch seine eigene zielgerichtete Initiative erreichen. Der Medizin kommt hierbei der Status einer Hilfestellung zu, doch der entscheidende Akteur ist aus diesem Blickwinkel das kranke Subjekt. Damit steht die einzelne Person in der Psychosomatik sowohl methodisch als auch normativ im Mittelpunkt. Daran ändern „biopsychosoziale“ Bekenntnisse nichts, die eine „ganzheitliche“ Betrachtung von Krankheit versprechen. Die medizinische Praxis der Psychosomatik in Diagnostik und Behandlung bleibt auch unter „biopsychosozialer“ Etikettierung faktisch voll und ganz auf das Individuum – und nicht etwa auf den sozialen Zusammenhang – fixiert.

 


Psychosomatischer Individualismus bei ME/CFS

 

In markanter Form tritt der Individualismus der Psychosomatik in Bezug auf ME/CFS hervor. Diese Krankheit ist von einem breiten Spektrum systemischer Symptome gekennzeichnet, die sich durch eine Überschreitung eng gesteckter Belastungsgrenzen drastisch verschlechtern (post-exertionelle Malaise, PEM). Entgegen des biomedizinischen Konsenses wird ME/CFS von der Psychosomatik im Rahmen des sogenannten „biopsychosozialen Modells“ als „funktionelle“ oder „somatoforme Störung“ fehlklassifiziert. Die Symptomatik, so die Behauptung, sei Ausdruck dysfunktionaler Einstellungen der Individuen. Die dem „Modell“ zufolge „falsche“ Überzeugung, körperlich krank zu sein, führe dazu, dass die Betroffenen sich tatsächlich krank fühlen. Demnach werden die persönlichen psychischen Zustände bei ME/CFS als kausal für die ärztlicherseits als subjektiv eingeordneten somatischen „Beschwerden“ angesehen. Während also die Psyche der Individuen reduktionistisch als die Ursache des Problems identifiziert wird, ist von „bio“ und „sozial“ an dieser Stelle keine Rede mehr.

 

Die Psychosomatik erweitert den methodischen Individualismus auch bei ME/CFS um einen normativen Schritt, indem sie die Verantwortung für den Umgang mit der Krankheit bei den kranken Personen festmacht. An die ME/CFS-Betroffenen trägt die Psychosomatik die Vorgabe heran, dass es in erster Linie deren eigene Aufgabe sei, an der Krankheit bzw. an der Beseitigung von deren Ursachen zu „arbeiten“. Die Medizin könne unterstützend wirken, etwa in Gestalt von „Psychoedukation“ und „Psychotherapien“, aber der entscheidende Hebel sei letztlich die Bereitschaft und die Fähigkeit der Kranken, ihre psychische Verfassung von einem „dysfunktionalen“ und „falschen“ in einen „richtigen“ Zustand zu versetzen. Eine häufige Implikation dieser individualistischen Sichtweise besteht darin, dass den ME/CFS-Kranken über eine Verantwortung hinaus eine „Schuld“ suggeriert wird – vor allem, wenn eine gesundheitliche Besserung ausbleibt. Das Anhalten der Krankheit, so der Kurz- und Fehlschluss, müsse ein Resultat eines zu schwachen Willens, mangelnder Anstrengungen oder eines „Krankheitsgewinns“ der Betroffenen sein.

 

Derart weitreichende Zuschreibungen von „Verantwortung“ verdeutlichen, dass die Psychosomatik im Fall von ME/CFS eine den Individualismus aktiv forcierende Stellung einnimmt. Sie überträgt den einzelnen Personen mit allen Konsequenzen die ausschlaggebende Rolle im Kontext einer schweren Krankheit. Dies ist bei ME/CFS besonders bemerkenswert, weil den Betroffenen schon aufgrund ihrer einschneidenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen mitunter nur noch sehr eingeschränkt eine „Arbeit“ an ihrer Krankheit möglich ist – ganz unabhängig davon, ob sie dies „wollen“ oder nicht. Die Psychosomatik erhält ihren individualistischen Imperativ also selbst mit Blick auf Menschen aufrecht, deren persönliche Handlungsspielräume infolge ihrer Krankheit massiv begrenzt und teilweise zerstört sind. Statt als bloße Reproduzentin agiert die Psychosomatik somit als Antreiberin eines normativen Individualismus. Sie bedient sich dabei eines verabsolutierenden und ortlos-abstrakten Verantwortungsbegriffs, der zu einem humanistischen Verständnis von Verantwortung – das Verantwortung untrennbar von den jeweiligen Voraussetzungen der Subjekte und der sozialen Konstellation abhängig macht – im Widerspruch steht.

 


Die Passförmigkeit der psychosomatischen Institutionen im „Neoliberalismus“

 

Die Psychosomatik verfügt im deutschsprachigen Raum über eine umfassendes Netzwerk von Institutionen. Im Rahmen der allgegenwärtigen „psychosomatischen Grundversorgung“ werden in allgemeinärztlichen Praxen oft innerhalb kürzester Frist und mit geringstem Aufwand psychosomatische Diagnosen gestellt und Behandlungen eingeleitet. Hinzu kommen psychosomatische Fachärzte, psychosomatische Abteilungen und Querschnittsangebote in Krankenhäusern sowie ein weit verzweigter Bestand psychosomatischer Kliniken, insbesondere im Rehabilitationssektor. Vor allem anhand der „Reha-Kliniken“ wird deutlich, dass die psychosomatischen Institutionen auf einen größtmöglichen „Output“ pro investierter Ressource und Zeiteineinheit angelegt sind. Modulare, skalierbare „Programme“ stellen in diesen Kliniken die simultane, kostensenkende Behandlung einer enormen Anzahl von Patient*innen sicher. Ergänzt werden die direkt behandlungsbezogenen psychosomatischen Institutionen durch psychosomatische Fachgesellschaften, psychosomatische Lehrstühle an Hochschulen, psychosomatische Ausbildungsstätten und psychosomatische Medien. Auch außerhalb des deutschsprachigen Raums gibt es, teils unter anderen Bezeichnungen, ähnliche Einrichtungen.

 

Die auf großflächigen „Output“ bei gleichzeitiger „Wirtschaftlichkeit“ angelegte psychosomatische Infrastruktur kann als das Ergebnis früherer Versuche gedeutet werden, „neoliberalen“ Vorstellungen von kollektiv finanzierten Institutionen in einem Gesundheitssystem gerecht zu werden. Der Neoliberalismus ist eine Ideologie, die mit einem Höhepunkt von den 1980er bis in die 2000er Jahre über lange Zeit das hegemoniale politische Paradigma in westlich orientierten Staaten bildete, diesen Rang aber mittlerweile verloren hat. Inhaltlich wurde der Neoliberalismus zwar mit einigem Recht regelmäßig mit einer wirtschaftlichen Deregulierung und dem Abbau von Infrastruktur in Verbindung gebracht, doch er war im Unterschied zu radikal-„libertären“ Ideologien nicht fundamental anti-institutionell. Dem Neoliberalismus zufolge hatten Institutionen dort einen legitimen Platz, wo sie die „richtigen Anreize“ setzten, die „Effizienz“ sozialer Zusammenhänge erhöhten und ein „Marktversagen“ verhinderten. Im Gesundheitssystem verfügten Institutionen demzufolge über eine Berechtigung, wenn sie möglichst billig und schnell zu dem Ziel beitrugen, die marktkompatible „Arbeitsfähigkeit“ Kranker wiederherzustellen.

 

Innerhalb eines neoliberalen Paradigmas schienen die psychosomatischen Institutionen diese Anforderungen zufriedenstellend zu erfüllen. Sie beschäftigten sich damit, die Kranken zügig über die angeblichen Ursachen ihrer Krankheiten „aufzuklären“ und ihnen die Erwartung zu vermitteln, dass sie als Individuen für die Behebung dieser Ursachen verantwortlich seien. Durch diese Individualisierung von Krankheit und durch den Verzicht auf potenziell teurere biomedizinische Behandlungen stellte die Psychosomatik in Aussicht, die im Gesundheitssystem anfallenden Kosten zu reduzieren. Sie versprach die Erreichung des vorgegebenen Ziels – die Wiederherstellung der „Arbeitsfähigkeit“ der Kranken – mit einem geringen Mitteleinsatz. Dieses Versprechen reichte aus, um eine Passförmigkeit der psychosomatischen Institutionen unter neoliberaler Hegemonie zu gewährleisten. Dass die Psychosomatik dieses Versprechen faktisch oftmals nicht einlöste – etwa durch Fehlbehandlungen bei ME/CFS, die mittel- und langfristig weder Kosten senkten noch zu einer „Arbeitsfähigkeit“ führten – stand dabei auf einem anderen Blatt. Die Psychosomatik beteuerte, zu „liefern“ – und der Neoliberalismus „glaubte“ es ihr.

 


Individualismus und Institutionen im „Post-Neoliberalismus“

 

So plausibel die Rolle der psychosomatischen Institutionen im Neoliberalismus wirkte, so prekär wird die Lage für sie, nachdem der Neoliberalismus seine Position als ideologisches Leitbild eingebüßt hat. Der Neoliberalismus prägte eine Epoche, die – noch – die Ordnungsprinzipien der (Spät-)Moderne in sich trug. Doch diese Ordnungsprinzipien und die sie verkörpernden Institutionen sind längst unter Beschuss geraten, sind abgenutzt und erschöpft, und manche von ihnen zerfallen. Unterdessen gewinnt die nachfolgende Epoche, also ein „Post-Neoliberalismus“, allmählich an Kontur.

 

Als eine der kulturellen Eigenschaften des Post-Neoliberalismus zeichnet sich eine Neubestimmung des Individualismus ab. Individualismus im Neoliberalismus bedeutete, den einzelnen Menschen die Verantwortung für ihr persönliches Fortkommen in einer institutionalisierten „Marktgesellschaft“ zuzuweisen. Diesem Individualismus war – gemäß des Grundmotivs der Moderne – ein Versprechen auf Fortschritt oder zumindest die Behauptung von dessen Möglichkeit zu eigen. Demgegenüber bedeutet Individualismus im Post-Neoliberalismus, den Individuen in einer zunehmend autoritären Makro-Struktur und einer sich in Teilen ent-institutionalisierenden Lebenswelt die „Verantwortung“ für ihr elementares Überleben zu übertragen. Die Fortschrittsperspektive verblasst bzw. ist außerhalb der privilegiertesten Kreise endgültig unglaubhaft, dafür tritt die persönliche Sicherstellung und Bewältigung schierer Existenz in den Vordergrund.

 

Diese Neubestimmung des Individualismus spiegelt sich in einem veränderten Verständnis von Institutionen wider. Während Institutionen im Neoliberalismus als Koordinationsinstrumente bis hinab zur Feinsteuerung des individuellen Verhaltens fungierten, dienen sie im Post-Neoliberalismus vermehrt als grobe, rigide Leitplanken. Die Institutionen im Post-Neoliberalismus konstituieren einen „harten“, abgesicherten Rahmen, aber innerhalb dieses Rahmens werden die Individuen, solange sie die übergeordneten Regeln einhalten, weitgehend ihrem Schicksal überlassen. Die die Gesellschaft nach funktionalen Gesichtspunkten strukturierenden Institutionen der Meso- und Mikro-Ebene, die für den Neoliberalismus und die Moderne überhaupt so prägend waren, verlieren an Gewicht oder verschwinden ganz und weichen einer lebensweltlichen „Wildnis“, die nur noch durch massive Pflöcke an den Rändern eingehegt wird. „Anreize“ oder gar eine „Hilfestellung“ mit Blick auf eine fortschrittsbezogene „Optimierung“ des individuellen Verhaltens bieten diese Pflöcke nicht; sie stecken bloß die Arena ab, in der das Individuum seinen wahrgenommenen „Kampf ums Dasein“ auszufechten hat.

 


Die Anschlussfähigkeit der Psychosomatik an den Post-Neoliberalismus

 

Die Psychosomatik trägt durch ihre Stellung als Antreiberin des Individualismus in ihrem Wirkungskreis zum Entstehen eines post-neoliberalen Szenarios bei. Im Fall von ME/CFS erhebt sie den Individualismus zum normativen Ideal, und zwar selbst dort, wo es, wie bei schwer Betroffenen dieser Krankheit, unsinnig und medizinisch kontraproduktiv ist. Die Botschaft der „biopsychosozialen“ Psychosomatik bei ME/CFS lautet: „Du bist für die Behebung deiner Krankheit selbst verantwortlich, und wenn du es nicht schaffst, hast du versagt. Unterstützung ist potenziell schädlich, weil sie dir einen ‚Krankheitsgewinn‘ beschert und dich krank bleiben lässt. Deswegen verknappen wir sie.“ Mit dieser Botschaft ist die Psychosomatik bei ME/CFS ideologisch anschlussfähig an das, was im Post-Neoliberalismus zu einem allgemeinen Grundsatz avancieren könnte, nämlich die Radikalisierung des Individualismus mitsamt einer Verabsolutierung der Verantwortungszuschreibung an die einzelne Person. Ein passendes Diktum des Post-Neoliberalismus könnte daher lauten: „Wenn du überleben willst, musst du alleine klarkommen. Die Gesellschaft will und wird dir nicht helfen, und zwar aus Prinzip.“

 


Die Schwächung psychosomatischer Institutionen durch Selbstrelativierung

 

Die ideologische Anschlussfähigkeit der Psychosomatik an den Post-Neoliberalismus legt nahe, dass diese für den Übergang in diese Epoche zumindest „geistig“ gut aufgestellt sein könnte. Eine solche Einschätzung würde jedoch die „Dialektik“ dieser ideologischen Anschlussfähigkeit übersehen. Diese besteht darin, dass die Psychosomatik sich mit ihrem forcierten Individualismus zwar einerseits dem Post-Neoliberalismus annähert, dabei aber andererseits ihren eigenen Status relativiert. Im Neoliberalismus wirkte es schlüssig, dass die psychosomatischen Institutionen sich an der Wiederherstellung „Arbeitsfähigkeit“ der Kranken beteiligten. Doch durch den zugespitzten Individualismus, der den Kranken – etwa bei ME/CFS – einseitig die Verantwortung überträgt und eine weitergehende Unterstützung sogar als schädlich markiert, zieht die Psychosomatik letztlich selbst ihre Rolle in Zweifel. Wozu braucht ein Gesundheitssystem eine millionenschwere Infrastruktur bis hin zu großen psychosomatischen Kliniken, wenn die Kranken sich am besten allein heilen sollen? Es wird der Psychosomatik verstärkt schwerfallen, hierauf eine Antwort zu geben.

 


Die Schwächung psychosomatischer Institutionen durch das kulturelle „Wissen“

 

Das Problem der Selbstrelativierung der psychosomatischen Institutionen wird durch eine Verschiebung des „Wissens“ im Post-Neoliberalismus verschärft. Es ist anzunehmen, dass in dieser Epoche auch über die Institutionen des Gesundheitssystems hinaus Welt- und Menschenbilder an Einfluss gewinnen, die einen „Kampf ums Dasein“ als „natürliche“ Konstellation auffassen und das Individuum als unhintergehbaren Dreh- und Angelpunkt des Handelns begreifen. Die Verantwortung für das eigene Überleben und die eigene Gesundheit wird, da sozialstaatliche oder sonstige unterstützende öffentliche Strukturen als abwesend erlebt werden, von einer wachsenden Zahl von Personen als Selbstverständlichkeit verinnerlicht.

 

Wie wirkmächtig ein in diese Richtung deutendes „Wissen“ bereits in der Gegenwart ist, zeigt sich etwa an dem landläufigen Narrativ, das den Umgang mit Krankheit stereotyp als „Kampf“ oder sogar „Krieg“ beschreibt. Vorausgesetzt wird dabei, dass die entscheidende Instanz, die einer Krankheit etwas entgegensetzen kann, das Individuum selbst sei. Das richtige „Mindset“ und die richtigen Gesundheits- und Fitnesstechniken fungieren in diesem Narrativ als persönliche „Tools“, um die Krankheit eigenmächtig zu „besiegen“. Politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen treten im Gegensatz dazu weit zurück und institutionalisierte Solidarität wird als unwesentlich oder inexistent angenommen.

 

Mit dem kulturellen „Wissen“, das sich im Post-Neoliberalismus verbreitet, entfällt eine zentraler Rückhalt für das Bestehen psychosomatischer Institutionen. Diese übertragen den Kranken die individuelle Verantwortung für den Umgang mit Krankheit. Doch was bleibt von dieser Tätigkeit, wenn das „Wissen“ um diese Verantwortung ohnehin als triviale Wahrheit gilt und von großen Teilen der Bevölkerung selbstständig zur Richtschnur erhoben wird? Kliniken, die dieses zum Allgemeingut gewordene „Wissen“ vermitteln, oder akademische Lehrstühle, die dieses „Wissen“ rationalisieren, braucht es in diesem Kontext voraussichtlich immer weniger und nur noch für besonders „rückständige“ und widerspenstige Patient*innen.

 


Die Schwächung psychosomatischer Institutionen durch den Wirkungsverlust ihrer Legitimationsstrategie

 

Das sich verschiebende kulturelle „Wissen“ im Post-Neoliberalismus bringt es mit sich, dass auch die Strategie der psychosomatischen Institutionen zur Legitimation ihrer eigenen Existenz an Wirksamkeit verliert. Im Neoliberalismus rechtfertigten die psychosomatischen Institutionen ihr Dasein damit, sich als funktionale Instrumente zur Wiederherstellung der „Arbeitsfähigkeit“ von Kranken zu positionieren. Erfolgreich sein konnten sie mit dieser Strategie aus zwei Gründen: Erstens, weil der Neoliberalismus kollektiv finanzierte Institutionen grundsätzlich als legitim bewertete, sofern sie eine „effiziente“ Verhaltenskoordination versprachen – und zweitens, weil im Neoliberalismus die Annahme vorherrschte, dass es sich zumindest aus einem wirtschaftlichen Kalkül lohnte, sich mit den Kranken zu befassen. Die Ausgaben des kollektiven Gesundheitssystems wurden im Neoliberalismus als Investitionen begriffen, die sich durch die erwartete Wertschöpfung der genesenen Individuen rentieren sollten.

 

Auf diese beiden für sie sehr günstigen Voraussetzungen können sich die psychosomatischen Institutionen im Post-Neoliberalismus jedoch nicht mehr verlassen. Kollektive Institutionen werden, wie oben erläutert, in dieser Epoche verstärkt als grobe „Leitplanken“ interpretiert und stoßen daher im  Allgemeinen auf wesentlich größere Vorbehalte, wenn sie sich, wie zahlreiche Institutionen des Gesundheitssystems, mit der Koordination von Verhalten bis hinab auf die Mikro-Ebene beschäftigen. Zudem büßt die Annahme, dass es sich wirtschaftlich auszahle, Kranke zu behandeln, im Post-Neoliberalismus ihre weitreichende Akzeptanz ein. Kennzeichnend für diese Epoche ist nicht eine auf das Verhalten der Individuen abstellende Doktrin des „Förderns und Forderns“, sondern ein essenzialistisch verdichteter „Ableismus“, der Kranke für inhärent wertlos hält und sie in einem unterstellten „Kampf ums Dasein“ in einem weitergehenden Sinn als überflüssig einstuft.

 

Diese Veränderungen beeinträchtigen die Durchschlagskraft der Legitimationsstrategie der psychosomatischen Institutionen erheblich. Eine wachsende grundsätzliche Ablehnung von Institutionen des skizzierten Typs sowie eine sich ausbreitende Haltung, die die Zuständigkeit für Kranke prinzipiell negiert, lassen Begründungen, die die Institutionen des Gesundheitssystems in den Dienst einer gesamtwirtschaftlichen Effizienz stellen, immer häufiger ins Leere laufen. Anstatt Menschen durch Investitionen wieder „fit“ für den „Markt“ zu machen, liegt es im Post-Neoliberalismus nahe, Kranken die institutionelle Unterstützung zu entziehen und sie als alleinverantwortlich für potenzielle Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Gesundheit zu betrachten. In einer solchen Konstellation gilt der Rückbau des kollektiven Gesundheitssystems als Normalfall, während die verbliebenen Institutionen dieses Systems einer harten Konkurrenz um schrumpfende Ressourcen sowie einem erhöhten Druck ausgesetzt sind, ihre Existenz zu rechtfertigen. Es ist äußert fraglich, inwieweit die psychosomatischen Institutionen dieser Situation mit einer immer schlechter verfangenden Legitimationsstrategie werden standhalten können.

 


Die Schwächung psychosomatischer Institutionen durch Ersetzung

 

Als gravierende Bedrohung für die psychosomatischen Institutionen kommt hinzu, dass diese auch in ihren übriggebliebenen Aufgaben zunehmend ersetzt werden. Diese Entwicklung nahm bereits im Neoliberalismus durch das Wachstum persönlicher Gesundheitsdienstleistungen ihren Anfang. Privat zu bezahlende „Coaches“ und sonstige „Behandler*innen“ sollten den Kranken den effizientesten Weg zu einer Wiedererlangung maximaler Arbeitskraft ebnen. Sie repräsentierten eine „marktförmige“ Konkurrenz zu den Institutionen des kollektiven Gesundheitssystems und benötigten keine aufwändige Infrastruktur, etwa in Form von Kliniken oder bürokratisch organisierten Arztpraxen. Dabei vermittelten sie die individualistischen Botschaften an die Kranken oftmals schneller und zielgenauer als die institutionalisierte Psychosomatik. Es ist wahrscheinlich, dass die persönlichen Gesundheitsdienstleitungen sich ideologisch an den Post-Neoliberalismus anpassen und in diesem zunächst weiterbestehen werden.

 

Maßgeblich verwandeln werden sich die Rahmenbedingungen des Gesundheitssystems jedoch durch den verstärkten Einsatz digitaler Techniken. Eine steigende Zahl von Institutionen der Psychosomatik, aber auch etliche persönliche Gesundheitsdienstleistungen, werden im Post-Neoliberalismus durch Maßnahmen und Angebote ersetzt, die auf „künstlicher Intelligenz“ basieren. Virtuelle „Ärzt*innen“, „Therapeut*innen“ und (pseudo-)medizinische „Apps“ werden vermehrt Aufgaben übernehmen, die derzeit noch von menschlichem Gesundheitspersonal ausgeführt werden. Die „künstliche Intelligenz“ kann zwar weder denken, noch ist sie empathisch, noch verfügt sie über ethisches Urteilsvermögen – aber sie ist unschlagbar preisgünstig, überall einsetzbar und keinerlei personellen Kapazitätsgrenzen unterworfen. Bereits diese oberflächlichen Vorteile werden ihr innerhalb einer Tendenz, in der die Anzahl der Kranken zunimmt, während das im kollektiven Gesundheitssystem verfügbare Geld im Verhältnis dazu abnimmt, zum Durchbruch verhelfen.

 

Zusätzlich ist mit der ausgiebigen Anwendung „künstlicher Intelligenz“ im Gesundheitssystem aus einem weiteren Grund zu rechnen: Derartige Techniken sind ideale Werkzeuge der Mächtigen und gigantische Multiplikatoren hegemonialer Ideologien. Die Profiteure des Post-Neoliberalismus werden die „künstliche Intelligenz“ nutzen, um den radikalen Individualismus und die sonstigen ideologischen Komponenten dieser Epoche flächendeckend und ohne jegliche Skrupel zu verbreiten. Kranke, die noch daran erinnert werden müssen, werden von der „künstlichen Intelligenz“ subtiler als von jeder psychosomatischen Professor*in und nachdrücklicher als von jeder psychosomatischen Chefärzt*in erfahren, dass sie und nur sie für ihr Überleben verantwortlich sind und dass sie dabei von anderen nichts – und ganz besonders keine Solidarität – zu erwarten haben. In einer bitteren Ironie der Geschichte werden es also keine Menschen, sondern leblose Maschinen sein, die die noch zweifelnden Kranken letztgültig über die Vollendung ihrer menschlichen Isolation instruieren.

 


Fazit: Der Niedergang der Psychosomatik, eine hochproblematische Epoche und eine Gelegenheit für ME/CFS

 

Die psychosomatischen Institutionen werden im Post-Neoliberalismus signifikant an Umfang und Bedeutung verlieren: Weil sie sich selbst relativieren, weil das kulturelle „Wissen“ ihre Notwendigkeit in Frage stellt, weil ihre Legitimationsstrategie in einem schrumpfenden kollektiven Gesundheitssystem immer weniger wirksam ist und weil sie durch Gesundheitsdienstleistungen und Technik ersetzt werden. Es ist davon auszugehen, dass in merklichem Ausmaß Personal reduziert, Programme gekürzt, Ressourcen abgezogen und Einrichtungen geschlossen werden. Besonders treffen wird dies Institutionen, deren Schwerpunkt in der personalintensiven psychosomatischen Behandlung liegt. Die ausgedehnte psychosomatische Infrastruktur, die im Neoliberalismus als „funktional“ galt, wird also in der nachfolgenden Epoche in wesentlichen Teilen einem Niedergang unterworfen sein.

 

Der Post-Neoliberalismus stellt eine in vielerlei Hinsicht hochproblematische Epoche dar. Speziell für Kranke einschließlich der ME/CFS-Betroffenen wäre die hier skizzierte Ausprägung des Post-Neoliberalismus mit vielen Nachteilen und Gefahren verbunden. Ein kultureller Wandel, der durch einen weiter radikalisierten Individualismus, einen essenzialisierenden „Ableismus“ und eine offensive Entsolidarisierung gekennzeichnet ist, würde ihnen ebenso schaden wie ein allgemeiner Rückbau des kollektiven Gesundheitssystems jenseits der Psychosomatik.

 

Betrachtet man den Niedergang der psychosomatischen Institutionen als Einzelaspekt, so ist dieser in Bezug auf ME/CFS gleichwohl nicht als Verlust einzustufen. Diese Institutionen haben bei dieser Krankheit durch Fehlzuordnungen und Fehlbehandlungen erhebliches Leid hervorgebracht – Leid, das bislang systematisch ungesehen bleibt und für das es nahezu keinen kommunikativen, geschweige denn einen juristischen Resonanzraum gibt. Doch wenn die psychosomatischen Institutionen künftig im Abstieg begriffen sind und dadurch die diskursive Machtposition der Psychosomatik als Disziplin schwindet, könnte dies eine Gelegenheit für die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels und für anschließende Konsequenzen eröffnen. Somit könnte der Post-Neoliberalismus unbeabsichtigt dazu beitragen, dass die Verfehlungen der psychosomatischen Institutionen im Hinblick auf ME/CFS zurückgehen oder sogar beendet werden. Nicht aus Einsicht, nicht aus gutem Willen, nicht weil der Post-Neoliberalismus eine konstruktive Alternative anzubieten hätte, sondern als Nebeneffekt der strukturellen Veränderungen, die der Post-Neoliberalismus beinhaltet. Daher wäre der Niedergang der Psychosomatik zwar ein – was ME/CFS betrifft – begrüßenswerter Einzelaspekt, doch dieser macht den Post-Neoliberalismus nicht zu einer insgesamt begrüßenswerten Epoche.

 

Inwieweit die in diesem Text geschilderten Sachverhalte eintreten werden, angefangen von den kulturellen Verschiebungen nach dem Neoliberalismus bis hin zum Niedergang der Psychosomatik und den dafür genannten Ursachen, ist eine offene Frage. Abzuwarten bleibt beispielsweise, von welchen Gegenstrategien die Psychosomatik Gebrauch machen wird, um ihre Position zu behaupten. Es geht daher nicht darum, mit dem hier dargestellten Szenario „Recht zu behalten“. Entscheidend ist vielmehr, an einem Nachdenken über zukünftige Entwicklungen mitzuwirken – und die Entwicklungen in einem nächsten Schritt in eine gewünschte Richtung zu beeinflussen. In welcher tatsächlich eintretenden Wirklichkeit auch immer: Sobald die Psychosomatik sich eines Tages ihrer fragwürdigen Rolle bei ME/CFS stellen muss, wird es darauf ankommen, dass sie, statt erneut Verantwortung an andere heranzutragen, diesmal selbst Verantwortung übernimmt.




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