Medikamente für alle, die sie brauchen

Karl Lauterbachs Liste muss für sämtliche ME/CFS-Betroffenen gelten

🗓️ 9.3.2024

🔗 https://bit.ly/mecfs-liste



Viele weiße Tabletten liegen auf einem blauen Untergrund. Darüber steht "ME/CFS".

„Sie haben sich ein Bein gebrochen? Die Kosten für die Behandlung werden ausschließlich übernommen, wenn Sie sich diese Verletzung bei einem Sportunfall zugezogen haben. Außerdem wissen wir nur bei einem Sportunfall, wie wir medizinisch vorgehen können. Wenn Sie sich ihr Bein bei einem Verkehrsunfall gebrochen haben, können wir ihnen nicht weiterhelfen. Auf Wiedersehen!“

 

Das klingt absurd? Ist es auch. Doch nach den Plänen des von Karl Lauterbach geführten Bundesministeriums für Gesundheit ist ein ähnliches Szenario bald Realität – mit dem Unterschied, dass es nicht um gebrochene Beine geht, sondern um durch nachgewiesenes SARS-CoV-2 ausgelöstes ME/CFS einerseits und anderweitig ausgelöstes ME/CFS andererseits. Ausgangspunkt der Verwerfungen ist eine von Lauterbachs Ministerium angekündigte Medikamentenliste für Long Covid. Für Betroffene dieses Krankheitsbilds wird eine Auswahl an Präparaten festgelegt, die zur Behandlung in Frage kommen und deren Kosten von den Krankenkassen getragen werden sollen. So sinnvoll dieses Vorhaben auf den ersten Blick wirkt: es hat gewaltige Haken.

 

Der Begriff „Long Covid“ bezeichnet ein breites Spektrum von Erkrankungen. Ein Teil der Betroffenen hat beispielsweise Lungenprobleme, ein anderer Teil hat dagegen ME/CFS. ME/CFS ist jedoch eine Erkrankung, die nicht nur infolge von SARS-CoV-2-Infektionen auftritt, sondern auch infolge anderer Auslöser. Dies hat zur Folge, dass nur ein Teil der ME/CFS-Betroffenen – diejenigen mit nachgewiesener SARS-CoV-2-Infektion als Auslöser – von einer solchen Long-Covid-Medikamentenliste profitieren würde. Alle anderen ME/CFS-Betroffenen, also jene ohne SARS-CoV-2-Infektionsnachweis sowie die durch andere Auslöser Erkrankten, würden von der Liste nicht erfasst. Und das, obwohl sie symptomatisch die gleiche Krankheit haben.

 

ME/CFS ist eine Diagnose, die unabhängig davon gestellt wird, was bei dem jeweiligen Patienten die Krankheit auslöste. Voraussetzung für die Diagnose ist die Erfüllung symptomatischer Kriterien, und nicht die Frage, ob Influenza, Epstein-Barr, SARS-CoV-2 oder andere Faktoren am Beginn standen. Solange keine nach Auslösern differenzierten Therapien verfügbar sind, widerspräche es völlig dieser etablierten Diagnostik, wenn beim Zugang zur Versorgung nun nach Auslösern unterschieden würde. Menschen mit der gleichen Diagnose ME/CFS, die auf der Erfüllung der gleichen symptomatischen Kriterien beruht, müssen daher die gleichen Versorgungsmöglichkeiten erhalten. Alles andere verletzt das fundamentale ethische Prinzip, Gleiches gleich zu behandeln, zutiefst.

 

Dieser offensichtliche Aspekt allein verdeutlicht, dass die Medikamentenliste in der geplanten Form eine ungerechte Fehlkonstruktion ist. Doch warum ist es darüber hinaus unerlässlich, die Liste für alle ME/CFS-Betroffenen zu öffnen? Hierbei ist es zunächst wichtig, sich die Gegenwart, d.h. die Situation ohne eine solche Liste, vor Augen zu führen: Weil den meisten Ärzten geeignete Therapieoptionen unbekannt sind, erhält die Mehrheit ME/CFS-Betroffenen derzeit entweder überhaupt keine Therapien oder falsche Therapien wie Fitnesstraining und kurativ angelegte Psychotherapien. Zugang zu medikamentösen Behandlungsversuchen hat nur, wer in Kontakt zu informierten und aufgeschlossenen Ärzten steht und zugleich über genug Geld verfügt, um den Einsatz von Off-Label-Präparaten selbst zu bezahlen.

 

Ausgehend von diesem desaströsen Status quo wäre eine für sämtliche ME/CFS-Patienten geltende Liste ein enormer Gewinn – und dies nicht nur für eine willkürlich definierte Teilgruppe. Wohlgemerkt: Zur Diskussion stehen keine Wundermittel, die äußerst zuverlässig anschlagen oder gar die Krankheitsmechanismen dauerhaft beseitigen. Aber es geht um Medikamente, die in der Praxis immerhin bei einigen Betroffenen zu einer symptomatischen Verbesserung beitragen. Zugang zu dieser Möglichkeit zu haben, würde Betroffenen, die sich schwerkrank in einer Sackgasse befinden, neue Perspektiven eröffnen. Zudem hätten bisher ratlose Ärzte eine Orientierung im Hinblick auf die zur Verfügung stehenden Therapieoptionen. Auf dieser Grundlage könnte das klinische Erfahrungswissen wachsen. Medikationen könnten anknüpfend an die Liste angepasst, erweitert und optimiert werden. Kurzum, es würde endlich ein therapeutischer Prozess in Gang gesetzt. Sobald die Übernahme der Medikamente durch die Krankenkassen gewährleistet ist, wäre schließlich auch die unhaltbare Benachteiligung finanziell schlechtergestellter Patienten Geschichte.

 

Diese erheblichen praktischen Vorteile werden durch ein weiteres Gerechtigkeitsargument ergänzt. Das Wissen über die – partielle, begrenzte – Wirksamkeit der einschlägigen Medikamente beruht auf ihrem langjährigen Einsatz bei ME/CFS-Patienten und auf der ME/CFS-Forschung. Schon bevor es COVID-19 gab, erklärten sich Betroffene bereit, die Behandlung mit diesen Präparaten zu erproben. Ohne die auf diese Weise gesammelten Kenntnisse wäre es nicht machbar, die nun unter dem Label „Long Covid“ firmierende Medikamentenliste fundiert zu erstellen. Ausgerechnet jene Patientengruppe, aus deren Reihen das vorhandene Wissen unter Inkaufnahme gesundheitlicher Risiken erzeugt wurde, jetzt vom Zugang zu den getesteten Medikamenten auszuschließen, kommt einer Verhöhnung und blankem Zynismus gleich.

 

Anstatt allen Patienten gleiche Möglichkeiten zu eröffnen, wiederholt sich mit der auf Long Covid beschränkten Medikamentenliste ein Muster, das sich bereits in der Frühphase der Pandemie abzeichnete. Patienten, die unter anhaltenden Problemen nach einer SARS-CoV-2-Infektion litten, erhielten Zugang zu „Long-Covid-Ambulanzen“ – egal, ob es sich bei ihren Symptomen um durch SARS-CoV-2 ausgelöstes ME/CFS oder sonstige Long-Covid-Beschwerden handelte. Patienten, die durch andere Auslöser an ME/CFS erkrankt waren, wurden hingegen im Regen stehengelassen. Im Gegensatz zu den „Long-Covid-Ambulanzen“, die bei aller berechtigten Kritik an der Fachkompetenz dieser Einrichtungen zumindest einen Anlaufpunkt für die Betroffenen darstellten, existieren die im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien angekündigten Ambulanzen für ME/CFS bis heute nicht. Eine medizinisch durch nichts zu begründende Benachteiligung einer gleichermaßen kranken Patientengruppe.

 

Wie kam es nach den Ambulanz-Versäumnissen zu der zusätzlichen Fehlentscheidung, die Medikamentenliste auf Long Covid zu beschränken? Fest steht: Karl Lauterbach ist kein medizinischer Laie. Er kennt ME/CFS, weiß um die Schwere der Erkrankung und hat sich mehrfach selbst dazu geäußert. „Das muss sich dringend ändern“, schrieb Lauterbach mit Blick auf die unzureichende Versorgungs- und Forschungslage bei ME/CFS. Beraten wird er unter anderem von Carmen Scheibenbogen, einer der führenden ME/CFS-Wissenschaftlerinnen in Deutschland. Sie ist Mitglied der Expertengruppe, die Empfehlungen zur Ausgestaltung der Medikamentenliste erarbeitet. Zum „Runden Tisch Long Covid“ zog Lauterbach zudem die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS hinzu. Deren Vertreter Sebastian Musch erläuterte, dass die Liste für alle Betroffenen unabhängig vom Auslöser der Erkrankung gelten muss.

 

Die Informationen liegen vor, die Situation ist bekannt, Karl Lauterbach weiß in Bezug auf ME/CFS Bescheid. Dass er viele Betroffene, bei denen diese Erkrankung aufgrund eines „falschen“ Auslösers einsetzte, von der geplanten Versorgung ausschließen will, ist mit mangelhafter Fachkenntnis somit nicht zu erklären. Was bleibt, sind mutmaßlich „politische Gründe“, die zur Beschränkung der Liste führten. Worin auch immer diese im Detail bestanden: Sie haben nun voraussichtlich zur Folge, dass die Erkrankten zu Opfern von Erwägungen werden, die nichts, aber auch gar nichts mit ihrer Erkrankung zu tun haben. Anstatt medizinische Hilfe zu erhalten, gehen sie aus sachfremden Gründen leer aus und leiden ungebremst weiter.

 

Wenn die Medikamentenliste in der von Lauterbachs Ministerium vorgesehenen Form kommt, wird der weitere Umgang mit ihr zu einer Geduldsprobe für schwerkranke Menschen – und zu einer Bewährungsprobe für den deutschen Rechts- und Sozialstaat. Er muss dazu in der Lage sein, eine derart offenkundige und zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit abzustellen. Sofern dies auf politischem Weg oder im Gemeinsamen Bundesausschuss nicht mehr erfolgt, werden die Gerichte dies nachzuholen haben. Sie werden an das oben genannte Prinzip erinnern müssen, dass Gleiches gleich zu behandeln ist, und dass gleichartig Erkrankten eine gleichartige medizinische Versorgung zusteht. Nicht als gnädiges Almosen, sondern als verbindlicher Rechtsanspruch. Für alle Betroffenen von Long Covid und alle Betroffenen der viel zu lange vernachlässigten Krankheit ME/CFS.



Anhang

 

Quelle des Zitats von Karl Lauterbach:

„Das muss sich dringend ändern.“

https://twitter.com/Karl_Lauterbach/status/1445503579456892928

(Stand 7.3.2024)