Der ME/CFS-Mann

Wie Geschlechterrollen die ärztliche Diagnostik und Kommunikation beeinflussen

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Eine erschöpft wirkende Person sitzt auf einem großen Sessel

Wenn Frauen mit ME/CFS zum Arzt gehen, besteht die Gefahr, dass sie stereotyp als "psychisch labil" abgestempelt werden, während ihre körperliche Krankheit verharmlost wird. Bei mir als Mann mit ME/CFS gibt es in der Sprechstunde ebenfalls ein Problem:

 

Wenn ich als großer, normalgewichtiger Mann mittleren Alters eigenständig und geradlinig ein Sprechzimmer betrete, mich aufrecht hinsetze, Blickkontakt aufnehme und in klaren Sätzen rede, ist für den Arzt die Hälfte der Diagnostik bereits erledigt.

 

Der erste Eindruck des Arztes ist: das ist ein normaler Mann. Alles, was ich dem Arzt inhaltlich mitteile, wird vor dem Hintergrund dieses ersten Eindrucks gedeutet. Egal, welche drastischen Worte ich wähle, um die schwere meiner Symptome zu schildern - der Eindruck bleibt.

 

Die Ursache des Problems ist: Ich wirke oberflächlich nicht gebrechlich und im Gespräch nicht konfus. Dass ich wegen meiner Erkrankung körperlich abgebaut habe, erkennt der Arzt nicht. Dass mein Gesicht blass ist und meine Augenringe tief, ist für ihn nicht von Belang.

 

Der Arzt sieht nicht, welcher Kraftakt es für mich war, überhaupt in die Praxis zu kommen. Er wird nicht sehen, wie am nächsten Tag der Crash kommt. All das kann ich ihm SAGEN, aber es wird im selben Moment von dem Eindruck vor Ort konterkariert und relativiert.

 

Weil das unmittelbar Gesehene das bloß Gesagte überlagert, liegt für den Arzt die Einschätzung nahe, dass die Beschwerden ja so gravierend nicht sein können. Wenn dann noch das "normale Blutbild" hinzukommt, ist das Gesamtbild des "normalen Mannes" vollständig.

 

Überspitzt und vereinfacht könnte man sagen: Wo die ME/CFS-kranke Frau durch den Arzt als psychisch "labil" fehlgedeutet wird, werde ich als ME/CFS-kranker Mann als "stabil" missverstanden. Die ärztliche Logik: ein normaler Mann ist stabil, und vor mir sitzt ein normaler Mann.

 

Diese Wahrnehmung hat zur Folge, dass die Erkrankung und ihre Tragweite vom Arzt nicht erfasst werden. Ein Anlass für eine der tatsächlichen Schwere der Symptome angemessene Diagnostik und ein entsprechendes weiteres Vorgehen wird nicht erkannt.

 

Was dagegen tun? Wie gesagt sind Worte ein schwaches Werkzeug. Und doch bleiben sie im Rahmen einer Sprechstunde das erste Hilfsmittel. Umschreibungen von Symptomen sind dabei sehr schwierig, weil sie oft wie Allerweltsprobleme klingen ("Erschöpfung", "Müdigkeit" usw.).

 

Was dagegen eine Wirkung hat: die Nennung männlich assoziierter Tätigkeiten, die nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr möglich sind. Beispiele: Berufsausübung, Geld verdienen, Autofahren, bestimmte Sportarten. Dann wird verstanden: "Aha, hier geht es um was!"

 

Auch das reicht nach meiner Erfahrung nicht aus, um den Grad der Beeinträchtigung durch ME/CFS klarzumachen. Aber immerhin verdeutlicht es, dass diese Krankheit eine grundlegende Veränderung der Lebenssituation mit sich bringt.

 

Ob es uns gefällt oder nicht: Wir werden mit unserem Geschlecht und in unserem Auftreten gedeutet, und infolgedessen werden bestimmte Rollenbilder und Normen in uns hineinprojiziert. Dies hat einen massiven Einfluss darauf, wie das, was wir sagen, verstanden und bewertet wird.

 

Bei einer Krankheit wie ME/CFS, die ohnehin für Nichtbetroffene schwer verständlich ist, ist dies besonders problematisch. Eine an starren Rollenbildern orientierte ärztliche Wahrnehmung verschärft die Gefahr, die Krankheit nicht ernstzunehmen und falsche Diagnosen zu stellen.

 

Es wäre wünschenswert, dass Ärzte dies mitdenken und immer das konkrete Individuum sehen und nicht einen bloßen Repräsentanten einer Kategorie. Aber auch wir ME/CFS-Betroffene müssen überlegen, wie wir unsere Anliegen unter diesen Bedingungen besser vermitteln können.