Das Virus heißt nicht Kapitalismus, das Virus heißt SARS-CoV-2 und macht chronisch krank
Ein Appell
🗓️ 21.8.2025
Autorin: Mirja
In linken und kapitalismuskritischen Debatten lese ich immer häufiger, dass psychische Erkrankungen nicht nur persönliche Probleme sind, sondern auch mit den Bedingungen des Systems zusammenhängen: Prekarität, Leistungsdruck, Vereinzelung. Die Kritik richtet sich dagegen, dass Leid individualisiert wird, anstatt soziale Ursachen und kollektive Verantwortung sichtbar zu machen.
Die Corona-Pandemie hat diese Perspektive teilweise verstärkt. Sie gilt in der öffentlichen Kommunikation in allen Teilen der Gesellschaft als psychisch belastender Einschnitt: Einsamkeit, Angst und Depression wurden als kollektive Phänomene diskutiert. Doch während die psychische Dimension anhaltend stark betont wird, gerieten die körperlichen Folgen der Pandemie schnell aus dem Blick. Vor allem chronische Erkrankungen wie Long Covid und ME/CFS, die auch weiterhin durch eine SARS-CoV-2-Infektion ausgelöst werden können, werden bis heute kaum berücksichtigt. Sogenannte „Pandemie-Aufarbeitungen“ benennen einseitig psychische Folgen von notwendigen Infektionsschutzmaßnahmen, bieten aber keine Lösungen an. In diesem Kontext stellt die Thematisierung psychischen Leids und sozialer Belastungen eine Instrumentalisierung dar. Das Ansprechen dieser Probleme dient meist der nachträglichen Delegitimierung der Infektionsschutzmaßnahmen, nicht dem Interesse der Betroffenen.
Long Covid und ME/CFS sind schwere körperliche Erkrankungen und häufig von einem hohen Grad der Behinderung geprägt. Sie betreffen mehrheitlich Frauen, lassen sich mit den üblichen medizinischen Methoden unzureichend messen und werden von breiten Teilen der Ärzt*innenschaft ideologisch abgelehnt. Anstelle einer Anerkennung ihrer Realität erfahren Betroffene Psychologisierung: ihre Symptome werden auf Stress oder mangelnde mentale Fitness zurückgeführt. Die Sichtweise auf ME/CFS im 20. Jahrhundert verschob sich von einer biologischen Betrachtung der Erkrankung zu einer Fokussierung auf angebliche psychosoziale Ursachen. Dies bestimmt bis heute maßgeblich den Umgang mit den Betroffenen. Psychologisierung und Stigmatisierung setzen sich bei Long Covid fort.
Eine zentrale Rolle spielt hierbei das sogenannte biopsychosoziale Modell der Psychosomatik. Es klingt zunächst progressiv, weil es Körper, Psyche und Umfeld vermeintlich zusammendenkt. In der Praxis erweist es sich jedoch als medizinische Ausprägung neoliberaler Logiken: Krankheit wird zur Frage individueller Einstellung, Resilienz und Eigenverantwortung. Wer krank ist, soll aktiv an sich arbeiten, Reha-Programme absolvieren und möglichst schnell wieder funktionieren. Gesellschaftliche Unterstützung wird als „Krankheitsgewinn“ herabgesetzt und der Zugang zu Sozialleistungen als hinderlich für eine Genesung ausgelegt. Tatsächliche strukturelle Gegebenheiten wie fehlender Infektionsschutz, Stigmatisierung sowie nicht vorhandene medizinische Versorgung und biomedizinische Therapien werden ausgeblendet. Für Betroffene von Long Covid oder ME/CFS bedeutet das, dass sie ohne Hilfe zurückbleiben und sich zusätzlich gegen das ständige Misstrauen behaupten müssen, ob ihre Krankheit „echt“ ist und ob körperliche Ursachen „existieren“.
Die Pandemie der psychischen Erkrankungen findet gesamtgesellschaftlich anhaltend breite Aufmerksamkeit. Chronisch-somatische Krankheiten hingegen sind unsichtbar. Hier zeigt sich ein Widerspruch: Während psychische Diagnosen in der Kritik an Herrschafts- und Leistungszwängen zumindest in der Linken zunehmend politisiert sind, bleiben körperliche, unzureichend etablierte Krankheiten marginalisiert. Das gilt insbesondere, wenn sie wie im Fall von Long Covid und ME/CFS feminisiert sind. ME/CFS wird diesem Muster folgend in der öffentlichen Kommunikation oft auf „Erschöpfung“ reduziert, als handle es sich um eine besonders ausgeprägte „Müdigkeit“. Diese Zuschreibung passt perfekt in das Bild einer Pandemie psychischer Krankheiten: Erschöpfung wird als Ausdruck allgemeiner Überforderung gedeutet, nicht als somatische Erkrankung, was sowohl zu einer Verharmlosung psychischer als auch somatischer Krankheiten führt.
Diese Umdeutung befreit zum einen die Gesamtgesellschaft von der Verantwortungsübernahme für die Entscheidung, sich nicht mehr vor Infektionen zu schützen und öffnet gleichzeitig die Tür für ein Narrativ, das oberflächlich auch für Linke sehr romantisch klingen mag: Wenn es der Kapitalismus ist, der „ermüdet“, „erschöpft“ und psychisch krank macht, entlastet dies diejenigen, die versagt haben, einen politischen, solidarischen Umgang mit der Verhinderung von Infektionen zu finden und dadurch die unheilbare Krankheit von Millionen Menschen zu verantworten haben. Das Virus heißt aber nicht „Kapitalismus“, das Virus heißt SARS-CoV-2 und macht auch weiterhin jeden Tag unzählige Menschen schwer körperlich krank.
Durch die psychologisierende Sicht auf Long Covid und ME/CFS wird die politische Sprengkraft dieser Krankheiten neutralisiert. Ihre Verbindung zu geschlechtlicher Ungerechtigkeit und körperlicher Verwundbarkeit verschwindet hinter einer Erzählung, die in erster Linie auf individuelle Anpassungsprobleme abstellt. Vor dem Hintergrund dieser tief verwurzelten Psychologisierungstendenz treffen sich neoliberale und linke Analysen der Pandemie darin, den Infektionsschutz als Ursache psychischen Leids zu stilisieren. Auffällig ist, dass auch die Teile der Linken, die psychiatrische Kategorien zunehmend system- und machtkritisch sehen, diese Mechanismen übernehmen. Enttäuschend ist darüber hinaus, dass auch in linken Debatten wirksame und integrative Maßnahmen, um sowohl Menschen mit Long Covid und ME/CFS als auch Menschen mit psychischen Erkrankungen zu helfen, keinen Eingang finden.
Die Linke darf sich nicht vom vermeintlich progressiven Trend verführen lassen, gesellschaftliche Krisen auf psychische Dimensionen zu verkürzen. Eine inflationäre Bezugnahme auf diese Dimension entwertet nicht nur die Ernsthaftigkeit tatsächlicher psychischer Erkrankungen, sondern fördert zugleich einen neoliberalen Rückschritt in der öffentlichen Gesundheitspolitik. Die „Make America Healthy Again“-Ideologie kann hier als Warnung verstanden werden.
Eine solidarische, emanzipatorische Analyse müsste beides zusammendenken: die gesellschaftlichen Ursachen psychischer Krisen und die Realität chronischer somatischer Erkrankungen. Nur so kann sichtbar werden, wie der Kapitalismus nicht nur die Psyche, sondern auch den Körper schädigt – und wie stark feminisierte Krankheitserfahrungen von Abwertung und Unsichtbarkeit geprägt sind. Gleichzeitig darf nicht bei der bloßen Benennung von Missständen eingehalten werden. Es braucht ehrliche Lösungen im Sinne Betroffener. Der Instrumentalisierung von psychischer Krankheit, bloß um Versagen bei der Verhinderung von Infektionen zu verbergen und um Untätigkeit zu rechtfertigen, bin jedenfalls ich überdrüssig.
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