Das Raunen der Vergangenheit

Ein Neurologie-Buch zeigt die Versäumnisse dieser Disziplin in Bezug auf ME/CFS

🗓️ 3.10.2025



In einem 2019 neu herausgegebenen deutschen Neurologie-Buch wird ME/CFS unter der falschen Bezeichnung "chronisches Erschöpfungssyndrom" thematisiert. Es wird dort in einem Kapitel namens "Befindlichkeits- und Verhaltensstörungen von unklarem Krankheitswert" abgehandelt, oder besser: abgekanzelt.

 

Dieses Kapitel stellt in Frage, inwiefern ME/CFS überhaupt eine Krankheit ist. Dem Autor – ehemaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurologie – zufolge handelt es sich um ein rein subjektives, durch Medien und Gesellschaft verbreitetes "Problem" (Anführungszeichen im Original).

 

Zur Erinnerung: Ein Großteil der ME/CFS-Kranken ist körperlich kaum dazu in der Lage, das Haus zu verlassen, Schwerbetroffene oftmals nicht das Bett. Schwerstbetroffene können sich nicht mehr eigenständig ernähren. Überschreitungen der extrem engen Energiegrenzen verschlechtern den Zustand weiter.

 

Dass die Lebensqualität von ME/CFS-Betroffenen äußerst niedrig ist – niedriger als bei vielen anderen chronischen und schweren Krankheiten, hatten schon vor 2019 Studien dargelegt. Um diesen "Krankheitswert" zu registrieren und zu verstehen, hätte es aber auch gereicht, den Kranken zuzuhören.

 

Ferner war bereits 2015 das Grundlagenwerk des Institute of Medicine zu ME/CFS erschienen. Eine umfassende Zusammenstellung des damaligen Forschungsstandes zu Symptomatik, Pathophysiologie, Empfehlungen. All das hätte man 2019 als Autor und Verlag eines Neurologie-Buchs wissen können, nein: MÜSSEN.

 

Doch Autor und Verlag des deutschen Neurologie-Buchs zogen es vor, ein unwissenschaftliches, die zu ME/CFS bekannten Fakten und die Situation der Betroffenen verhöhnendes Pamphlet zu veröffentlichen, angeblich in "korrigierter" Fassung. Bis heute wird dieses Machwerk im Buchhandel vertrieben.

 

Es muss Gegenstand einer künftigen Aufarbeitung sein, welchen Einfluss Publikationen wie diese darauf hatten, dass sich der Wissensstand der meisten Mediziner*innen über ME/CFS bis in die Gegenwart auf einem jämmerlichen Niveau befindet. Und welche Rolle die Neurologie dabei spielte.

 

Allen, die dazu beitragen möchten, die Lage der Erkrankten zu verbessern, sei geraten, sich an andere Quellen zu halten, die es heute glücklicherweise in großer Zahl und in hoher Qualität gibt. Am besten wäre aber vor allem: von den Kranken zu lernen. Die Zeit des neurologischen Raunens ist vorbei.



Zum Weiterlesen


Wissenschaftsrhetorik ohne Evidenz

Antwort auf die ME/CFS-Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Neurologie