Das leise Verschwindenlassen

Wie die „Risikogruppen“ aus der pandemischen Gesellschaft entfernt wurden

🗓️ 1.1.2024

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Eine Person mit einer Schutzmaske spiegelt sich in einer Glasscheibe. Ihr Abbild ist halb durchsichtig.

Wie entledigen sich Gesellschaften unerwünschter Gruppen? In zahlreichen sozialen Ordnungen wurde diese Frage in einem grausamen Dreischritt aus definitorischer Ausgrenzung („Sie gehören nicht dazu!“), Dehumanisierung („Sie sind keine Menschen!“) und aktiver physischer Vernichtung beantwortet. In den Postdemokratien der europäischen Spätmoderne stellt sich diese Frage jedoch neu, denn die das Selbstverständnis dieser Gesellschaften ausmachenden Prinzipien sind liberal, das zur Durchsetzung sozialer Veränderungen anerkannte Instrumentarium ist zivil. Was also unter diesen Vorzeichen mit denen tun, die man nicht haben will?

 

Ein Lehrstück über die Mechanismen der postdemokratisch-spätmodernen Entfernung unerwünschter Bevölkerungsteile liefert der Umgang mit den sogenannten „Risikogruppen“ in der SARS-CoV-2-Pandemie. In der Frühphase der Pandemie 2020 erfüllte das Narrativ über die „Risikogruppen“ eine zweifache Funktion: Erstens legitimierte es die staatlich angeordneten Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionsdynamik, die unter anderem mit dem Schutz dieser Gruppen rechtfertigt wurden. Und zweitens ermöglichte das Narrativ die Entlastung einer selbsternannten und sich zur Norm erklärenden „Mitte“ oder „Mehrheit“, die sich nicht zu diesen Gruppen zählte und die wesentlichen Gefahren folglich in sicherer Entfernung bei den anderen – den „Alten“ und „Vorerkrankten“ – verorten konnte.

 

Die Pandemie dauerte an, und ab 2021/2022 benötigte die sich durch die staatlichen Reaktionen auf die Pandemie in ihrem Konsumhedonismus eingeschränkt fühlende Mehrheit ein neues Narrativ, das den zügigen Ausstieg aus den Infektionsschutzmaßnahmen plausibel machen musste. Dass die Existenz der „Risikogruppen“ zuvor dazu gedient hatte, die Einführung der Schutzmaßnahmen zu begründen, fiel der Mehrheit nun auf die Füße. Denn die Schutzmaßnahmen sollten weg, aber die „Risikogruppen“ waren noch da – und störten.

 

Einen Ausweg aus dieser Lage fand die Mehrheit in der Doppelstrategie des Beschwörens und Beschweigens. Das Beschwören bestand in der mantraartigen Verharmlosung der durch die Pandemie erzeugten Risiken. Das begierig aufgegriffene Deutungsangebot „Omikron ist mild“ wurde Schritt für Schritt zu „Corona ist eine Erkältung“ radikalisiert. Aufgrund vermeintlich entfallender gesundheitlicher Gefahren bestand augenscheinlich kein drängender Grund mehr, „freiheitseinschränkende“ Infektionsschutzmaßnahmen aufrechtzuerhalten.

 

Die zweite Komponente der Strategie, das Beschweigen, betraf direkt die „Risikogruppen“. Denn egal, wie sehr man die Verharmlosung vorantrieb: es war nicht zu leugnen, dass nach wie vor Menschen an COVID-19 starben und schwer erkrankten. Bis hin zu dem äußerst unangenehmen Befund, dass es mitnichten ausschließlich „Alte“ und „Vorerkrankte“ traf, sondern im Fall gravierender Langzeitschäden – Long Covid, ME/CFS – vor allem jüngere und mittelalte Erwachsene und mitunter auch Kinder.

 

Die sich von den gesundheitlichen Auswirkungen von COVID-19 dennoch nicht betroffen wähnende Mehrheit sah dies – und ließ die „Risikogruppen“ als zu beachtende Faktoren still und leise aus der Gesellschaft verschwinden. Öffentlich präsent waren Exponenten dieser Gruppen, wie etwa der „Long-Covid-Betroffene“, nur noch als tragisch-skurrile Überbleibsel einer Zeit, von der man mit wohligem Grusel feststellen konnte, dass man sie nun hinter sich hatte. Das neue Narrativ lautete: die Pandemie ist vorbei, die Freiheit ist wiederhergestellt. Kurzgefasst: es herrscht „Normalität“.

 

Gegenüber den „Risikogruppen“ wurde diese „Normalität“ stumm, nicht-sprachlich, durch reines Verhalten ins Werk gesetzt. Es gab keine Koordination, keine Aushandlung, keinen Interessenausgleich mit diesen Gruppen, sondern eine Konfrontation mit vollendeten Tatsachen. Die Installation der „Normalität“ war eine fulminante Machtausübung der Mehrheit. Die Mehrheit allein bestimmte die Eigenschaften und Regeln der „Normalität“ und entschied, wer in ihr einen Platz erhielt und wer nicht. „Eigenverantwortung“ war die euphemistische Chiffre dafür, dass Solidarität oder die Berücksichtigung von der „Normalität“ abweichender Bedürfnisse nicht mehr vorgesehen waren.

 

In vielerlei Hinsicht entsprach die Einführung der „Normalität“ einer Rekonstruktion des gesellschaftlichen Zustands von 2019. Doch nicht so in Bezug auf die „Risikogruppen“. Denn hätte sich die Mehrheit vor der Pandemie noch damit herausreden können, dass sie diese Gruppen einfach nicht auf dem Schirm gehabt hatte, war diese Ausflucht nach dem angeblichen „Ende der Pandemie“ nicht mehr verfügbar. Man hatte die „Risikogruppen“ zur anfänglichen Rechtfertigung staatlicher Maßnahmen ins Feld geführt und konnte daher nicht mehr behaupten, sich ihrer Existenz nicht bewusst zu sein. Die Gestaltung der „Normalität“ war somit kein Vorgang, in dem die „Risikogruppen“ vergessen wurden. Die „Normalität“ wurde im Wissen um das Dasein dieser Gruppen und ihre Gefährdung und willentlich gegen ihre Interessen gestiftet.

 

Die „Normalität“, wie sie mit dem proklamierten „Ende der Pandemie“ entstand, ist eine Realität, in der die „Risikogruppen“ keinen Platz mehr haben. Sie existieren zwar physisch in dieser „Normalität“ – solange sie nicht durch Infektionen sterben –, aber sie werden mit den sie bestimmenden Eigenschaften und damit in ihrer Identität vollständig negiert. Wollen die „Risikogruppen“ an der Gesellschaft teilnehmen, können sie dies nur unter der Bedingung der Anpassung an die von der Mehrheit vorgegebenen Strukturen. Das heißt: unter der Bedingung ihrer Unsichtbarkeit und der Aufgabe ihrer Identität. Die „Normalität“ ist eine Realität, die die „Risikogruppen“ verschwinden lässt.

 

Die „Risikogruppen“ verfügen definitionsgemäß über Bedürfnisse, die von denen der Mehrheit abweichen. So haben sie etwa, um ihre prekäre Gesundheit zu schützen und ihr Überleben wahrscheinlicher zu machen, ein Interesse daran, nicht der permanenten Durchseuchung mit SARS-CoV-2 und anderen Erregern ausgesetzt zu sein. Jedoch wird diesem Bedürfnis in keinem Teil des öffentlichen Lebens der „Normalität“ Raum gegeben, eine Geltung oder gar eine Verbindlichkeit zugesprochen, sei es durch gesellschaftliche Konventionen oder juristisch-administrative Regeln. Öffentliche Interaktionen in der „Normalität“ vermitteln den Risikogruppen durchweg die Botschaft: das, was euch als Angehörige dieser Gruppen ausmacht, ist hier nicht vorgesehen, taucht hier nicht auf. Ihr gehört nicht dazu.

 

Der öffentliche Umgang mit der Maske, die für „Risikogruppen“ ein wichtiges Werkzeug des Infektionsschutzes und damit des Überlebens ist, steht stellvertretend für diese Konstellation. Nirgends ist die Nutzung dieses Werkzeugs dauerhaft gelebte oder vorgeschriebene Praxis. Egal ob im Nahverkehr, in Universitäten oder in Krankenhäusern: Angehörige von „Risikogruppen“, die diese öffentlichen Institutionen nutzen möchten, müssen die Gesundheitsgefährdung hinnehmen, sich also den ihnen schadenden Regeln der Mehrheit beugen, oder auf die Nutzung dieser Institutionen verzichten. Dass diese Leute doch individuell für ihren Schutz sorgen könnten, greift zu kurz, weil ein Infektionsgeschehen immer mehrere Beteiligte hat und zudem viele Menschen, z.B. kleine Kinder, gar nicht über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen, sich selbst zu schützen. Infektionsschutz und insbesondere öffentlicher Infektionsschutz ist ein unauflöslich kollektives Gut.

 

Ebenso ist es auf der individuellen Ebene nicht möglich, sich als schwer vorerkranktes Elternteil gegen laufende Infektionen zu schützen, solange Kinder zur Anwesenheit in Schulen verpflichtet werden, in denen keinerlei Prävention stattfindet. Die Kinder stecken sich – was nicht ihnen anzulasten ist, sondern den Schulträgern – ungebremst untereinander an und tragen die Erreger in die Familien hinein. „Eigenverantwortung“ ist in einem Kontext, der jegliche gemeinschaftliche Verantwortung vermissen lässt, nicht durchführbar. Für „Risikogruppen“ bedeutet dies eine Teilnahme an Strukturen, die im Wortsinne ihren vitalen Interessen widersprechen.

 

Intelligente und nachhaltige Lösungen, die auf die Notwendigkeit des Infektionsschutzes eingehen würden – etwa durch bauliche Maßnahmen und professionelle Luftreinigung – liegen dermaßen außerhalb der Vorstellungskraft und des Willens der Mehrheit, dass es für die „Risikogruppen“ vollkommen illusorisch wäre, auf Verbesserungen auf dieser Ebene in absehbarer Zeit zu setzen. Die glasklare Botschaft der Mehrheit ist auch hier: eure Bedürfnisse sind abwegig, damit befassen wir uns nicht einmal. Oder anders gesagt: ihr gebt eure Identität auf und spielt nach unseren Durchseuchungsregeln mit, oder ihr seid draußen.

 

Die öffentliche Praxis des angedrohten oder vollzogenen Ausschlusses, wie sie sich in diesen Beispielen widerspiegelt, ist ein extrem starkes Instrument der Disziplinierung und der Herstellung von Konformität. In ihrer Wirkmächtigkeit bringt diese Praxis absurd anmutende Figuren wie den maskenlosen Patienten in der Long-Covid-Ambulanz hervor, der sich durch seine sichtbare Anpassung an die Mehrheit seinen Platz in der „Normalität“ zu sichern sucht. Indem er die gegen ihn gerichteten Vorgaben der „Normalität“ bis zur Gefährdung seines eigenen Lebens erfüllt, ist seine Unterwerfung total und die Macht der Mehrheit grenzenlos. Klarer als hier oder auf der maskenlosen Onkologie-Station könnte nicht sichtbar werden, wer die Regeln diktiert und wer über die Bedingungen von Teilnahme und Ausschluss bestimmt.

 

Worum geht es für die Angehörigen von „Risikogruppen“ in der „Normalität“ nach dem „Ende der Pandemie“, was steht für sie auf dem Spiel? Es geht um keine hochgesteckten Erwartungen, um keinen Wunsch nach einem ausgerollten roten Teppich oder nach einem etwas größeren Stück vom Kuchen. Es geht in einem sehr fundamentalen Sinn um die Anerkennung der Existenz und der elementaren Bedürfnisse dieser Gruppen. Wenn diesen elementaren, das Überleben und den Erhalt der Rest-Gesundheit betreffenden Bedürfnissen, die die Angehörigen der „Risikogruppen“ berechtigterweise haben, schlichtweg nirgends öffentlich Rechnung getragen wird, kann von Anerkennung keine Rede sein. Im Gegenteil: Die Strukturen, die die Angehörigen der „Risikogruppen“ vorfinden, negieren ihre Existenz, schließen diese Menschen in ihrem So-Sein radikal aus und kalkulieren die permanente Möglichkeit ihrer schweren gesundheitlichen Schädigung bewusst ein.

 

Dieser Ausschluss und diese Gefährdung könnten nicht von den individuellen Angehörigen von „Risikogruppen“ rückgängig gemacht werden, sondern einzig von der ausschließenden und gefährdenden Mehrheit. Natürlich „dürfen“ individuelle Angehörige von „Risikogruppen“ öffentlich eine Maske tragen und dadurch den Grad ihrer persönlichen Gefährdung verringern. Diese Option ändert jedoch überhaupt nichts an den Strukturen, die die „Risikogruppen“ systematisch gefährden, und an der Machtasymmetrie, die exklusiv die Mehrheit diese Strukturen gestalten lässt, während die „Risikogruppen“ ihnen ausgesetzt sind. Wenn der Angehörige einer „Risikogruppe“ öffentlich eine Maske trägt, ist dies überdies Ausdruck der Tatsache, dass er im Wissen um die Gefährlichkeit der ihn umgebenden Strukturen an diesen teilnimmt. Er begibt sich in diese Strukturen, obwohl ihm klar ist, dass diese seine spezifischen Bedürfnisse nicht berücksichtigen und diese gegen ihn gerichtet sind. Gerade darin zeigen sich seine Abhängigkeit, sein Ausgeliefertsein und seine Machtlosigkeit.

 

Individualisierende Problembeschreibungen, die sich in Begriffen wie „Eigenverantwortung“ manifestieren, sind blind gegenüber dem ausschließenden Charakter dieser gesellschaftlichen Strukturen und leisten einer Verschleierung der vorherrschenden Machtasymmetrie Vorschub. Betroffene Individuen haben in der gegenwärtigen Situation nur die Wahl zwischen der Hinnahme des Ausschlusses – einem Dasein als Paria – oder einer allenfalls graduell zu beeinflussenden Anpassung an die Vorgaben der Mehrheit um den Preis der Gefährdung ihrer verbliebenen Gesundheit und der Aufgabe ihrer persönlichen Identität. In dem Maß, in dem sie sich anpassen, verschwinden sie gesellschaftlich als Angehörige der „Risikogruppen“ von der Bildfläche.

 

Wie also entledigen sich die europäischen Postdemokratien der Spätmoderne unerwünschter Gruppen? Der kennzeichnende Mechanismus des hier erörterten Szenarios besteht in der gezielten Schaffung sozialer Strukturen, in denen die Angehörigen der „Risikogruppen“ als solche keinen legitimen Platz mehr haben. Eine Teilnahme an der Gesellschaft ist diesen Menschen nur unter der Bedingung möglich, dass sie sich den gegen ihre Interessen gerichteten Regeln der Gesellschaft unterwerfen. Akzeptieren sie diese Bedingung, ist dies gleichbedeutend damit, dass sie als Angehörige der „Risikogruppen“ unkenntlich werden und als irgendwie zu berücksichtigende, relevante oder gar mitgestaltende Faktoren nicht mehr existieren. Die Wahl dieser Menschen besteht somit darin, als Ausgeschlossene außerhalb der Gesellschaft oder als Unsichtbare innerhalb der Gesellschaft zu verschwinden.

 

Im Unterschied zu dem eingangs skizzierten Dreischritt sind die Angehörigen der „Risikogruppen“ in den europäischen Postdemokratien nicht der aktiven physischen Vernichtung durch die Mehrheit, wohl aber dem sozialen Tod des Verschwindens geweiht. Die ungebremste Durchseuchung und das Fehlen kollektiven Schutzes haben darüber hinaus den biologischen Tod mancher Angehöriger der „Risikogruppen“ zur Konsequenz. Das ist kein Geheimnis, kein unbekannter Nebeneffekt, sondern ein von der Mehrheit zur Aufrechterhaltung ihres ungestörten Konsumhedonismus wissentlich in Kauf genommener Sachverhalt.

 

Leise, unscheinbar und äußerst effektiv – so lässt die Mehrheit heute Gruppen von der sozialen Landkarte verschwinden, ohne dabei auch nur im Mindesten mit ihrem „liberalen“ und „zivilisierten“ Selbstbild in Konflikt zu geraten. Theoretisch darf ja jeder dazugehören, theoretisch stehen die öffentlichen Institutionen ja in bester universalistischer Manier allen offen. Genau so, dass man über die versprengten Häuflein, die trotzdem außen vor sind, in aller Selbstgerechtigkeit sagen kann: die haben es wohl selbst so gewollt. Und über die Toten: die wären ja sowieso gestorben.