Worte des Todes
Wie Sprache den sozialen Nicht-Status ME/CFS-Betroffener prägt
🗓️ 7.5.2025
🔉 Hörfassung des Beitrags (15:43 Min.)

Worte entscheiden über den Tod. Das gilt in einem doppelten Sinn. Erstens: Gruppen, für die es keine anerkannten Worte gibt, tauchen im Verständigungszusammenhang einer Gesellschaft nicht auf. Sie sind sozial tot. Zweitens: Gruppen, für die es keine solchen Worte gibt, haben keine Chance auf regelhaften Zugang zu den von ihnen benötigten existenziellen Ressourcen. Sie sind möglicherweise bald körperlich tot. So sind Worte – oder präziser: ihr Fehlen – untrennbar mit dem sozialen und körperlichen Tod verknüpft.
Andersherum bedeutet das: Über anerkannte Worte zu verfügen, ist eine Bedingung für eine Gruppe, als solche gesellschaftlich und körperlich zu leben. ME/CFS-Betroffene kämpfen seit Jahren um eine tatsächlich sie benennende Bezeichnung und um Worte, die ihre Situation zum Ausdruck bringen. Damit kämpfen sie um eine Voraussetzung ihrer Existenz. Sie wurden und werden dabei in einem enormen Ausmaß sprachlich fremdbestimmt und übergangen. Dies ist eine Hauptursache dafür, dass für diese Menschen weder eine adäquate medizinische noch eine ihr Dasein sichernde materielle Versorgung vorhanden ist.
Weil sie sozial tot sind, erscheinen die ME/CFS-Kranken nicht als Gruppe auf der gesellschaftlichen Bildfläche, nicht einmal als marginalisierte Gruppe. Fragte man in der Bevölkerung nach unterstützungsbedürftigen Gruppen, würden nur sehr wenige Leute auf die Idee kommen, die ME/CFS-Betroffenen zu nennen. Sie verkörpern keinen Personenkreis, der als potenzieller Empfänger von Hilfe erkannt wird oder gar darin zu bestärken sein könnte, seinerseits zum handlungsfähigen Akteur zu werden.
Für den sozialen Tod der ME/CFS-Kranken sind drei Faktoren ausschlaggebend: Das gezielte Unsichtbarmachen durch die Worte der anderen, der Teufelskreis der falschen Zuordnungen und das Fehlen der Worte der Betroffenen. Diese Faktoren tragen dazu bei, dass die Menschen mit ME/CFS dauerhaft in einem gesellschaftlichen Nicht-Status verharren und es ihnen verunmöglicht wird, als Gruppe hervorzutreten und als ebendiese zu überleben.
Das gezielte Unsichtbarmachen durch die Worte der anderen
Die Aktivitäten, mit denen andere die ME/CFS-Kranken gezielt unsichtbar machen, reichen weit zurück: Einen verhängnisvollen Punkt markierte hierbei Ende der 1980er Jahre die Einführung des Begriffs “chronic fatigue syndrome” (CFS) durch die Gesundheitsbehörden der USA. Dieser Begriff war darauf angelegt, die ältere Bezeichnung “Myalgische Enzephalomyelitis“ (ME) zu ersetzen. “CFS” verbarg die somatische Natur der Erkrankung und ließ die Betroffenen in einem größeren, vage definierten Personenkreis aufgehen. Wer an “ME” erkrankte, verschwand fortan in einer Gruppe von Personen mit unterschiedlichsten fatigue-bezogenen Symptomatiken. Die infamen deutschen Übersetzungen von “CFS” – “Müdigkeitssyndrom” bzw. “Erschöpfungssyndrom” – verwendeten nicht-medizinische, verharmlosende, verschwommene Allerweltsbegriffe und verschlimmerten diese Situation.
Derartige Praktiken des sprachlichen Unsichtbarmachens setzen sich in der Gegenwart fort. In zeitgenössischen medizinischen Texten über ME/CFS verwenden Autor*innen regelmäßig Formulierungen, die auf vermeintlich “unspezifische Symptome” sowie das angebliche “Fehlen eines Biomarkers” und eines “Erklärungsmodells” abstellen. Diese Wendungen zielen oftmals auf dieselbe Wirkung ab: Sie sollen suggerieren, dass es sich bei ME/CFS um keine abgrenzbare Krankheit und – so die Implikation – um keine abgrenzbare Gruppe Betroffener handele. Die stereotype Wiederholung identischer Formulierungen lässt diese als unkontroverse Wahrheiten erscheinen und überdeckt dabei ihren fragwürdigen und teils sachlich falschen Gehalt.
Als absichtsvolle Strategie tritt das Unsichtbarmachen von ME/CFS besonders deutlich im Verschweigen, Verleugnen und Umetikettieren des Hauptsymptoms der Erkrankung, der post-exertionellen Malaise (PEM), zutage. PEM ist ein charakteristischer pathophysiologischer Prozess, der nach einer Überlastung in eine starke Verschlechterung der sonstigen Symptome von ME/CFS mündet. Mittels PEM ist ME/CFS daher von anderen Krankheiten zu unterscheiden. Die weiteren Symptome von ME/CFS überschneiden sich teilweise mit denen anderer Krankheiten, PEM jedoch nicht. Wenn Ärzt*innen, Wissenschaftler*innen und Autor*innen ausgerechnet dieses markante Symptom übergehen, ist dies mit Unwissen allein nicht zu erklären. Es ist Ausdruck des Willens, ME/CFS und die unter dieser Krankheit leidenden Menschen aus dem öffentlichen Bewusstsein zu drängen.
Innerhalb der Medizin ist das gezielte Unsichtbarmachen ME/CFS-Kranker in der Psychosomatik auffällig virulent. Hier spricht man völlig unverblümt von “chronisch Erschöpften” und behauptet bar jeder Evidenz, unter Missachtung des Erlebens der Betroffenen und unter Ignoranz des Wissens über ME/CFS, es handele sich um eine “funktionelle Störung”. Hieraus leiten einige Psychosomatiker*innen Behandlungsansätze ab, die bei ME/CFS als Gesundheitsgefahr einzustufen sind. In ambulanten Kontexten und “psychosomatischen Rehas” für “Erschöpfte” finden “Aktivierungstherapien” ihre Anwendung, als würde ME/CFS mitsamt des Hauptsymptoms PEM nicht existieren. Die Psychosomatik ist damit das Negativbeispiel dafür, wie bewusstes sprachliches Unsichtbarmachen und medizinische Fehlbehandlung nahtlos ineinandergreifen.
Der Teufelskreis der falschen Zuordnungen
Neben den gezielten Aktivitäten des Unsichtbarmachens wirken sich weitere Praktiken von Menschen in Machtpositionen teils unbeabsichtigt darauf aus, dass ME/CFS-Kranke unsichtbar bleiben. Diese Praktiken sind also nicht zwangsläufig auf das Unsichtbarmachen angelegt, tragen aber in ihrer Wirkung dazu bei. So ordnen Ärzt*innen auch jenseits der Fachrichtung der Psychosomatik ME/CFS-Betroffene weiterhin in großer Zahl diagnostisch falsch zu. Besonders häufige Fehldiagnosen stammen dabei gleichwohl aus dem psychosomatisch-psychiatrischen Spektrum, etwa somatoforme Störungen, Depressionen, Neurasthenie und Burnout-Symptomatiken.
Derartige Zuordnungen sind nicht nur medizinisch unzutreffend, sondern sie spielen auch eine wesentliche Rolle dabei, den Nicht-Status von Menschen mit ME/CFS fortzuschreiben. Im Fall falscher Zuordnungen werden ME/CFS-Kranke formal nirgends als solche erfasst und behandelt, und aus diesem Umstand wird wiederum der Rückschluss gezogen, sie würden als Gruppe nicht existieren. Wenn die Zuordnung zu falschen, aber etablierteren Diagnosen auf der administrativen Ebene gar zur Voraussetzung dafür erklärt wird, dass ME/CFS-Betroffene eine Chance auf gutachterliche, behördliche und gerichtliche Anerkennung erhalten, treibt dies den Teufelskreis auf die Spitze. Das Stadium der Unsichtbarkeit und der soziale Tod werden dadurch von Mal zu Mal verlängert.
Das Fehlen der Worte der Betroffenen
Während andere sie mit Worten verdrängen, werden Betroffenen selbst die Worte genommen, um sich Gehör zu verschaffen und verstanden zu werden. Ohne Status und ohne Zugehörigkeit zu einer Gruppe bleiben ME/CFS-Kranke auf ihre bloße Individualität zurückgeworfen. Ihr sozialer Tod lässt auch ihre Worte sterben: ungehört, unverstanden, nicht anerkannt. Infolge dieser Unsichtbarmachung verstärkt sich das Leid der Betroffenen: Sie kämpfen nicht nur mit ihrem körperlichen Leiden, sondern auch mit einer Welt, die die Worte ihres Leidens nicht kennt.
Was nicht benannt werden kann, ist nicht sichtbar: in Zimmern von Ärzt*innen, Behörden oder in Gesprächen mit Angehörigen. Ohne die Anerkennung der PEM gibt es keine Worte, um zu erklären, dass ein einziges Gespräch den Körper in einen Zustand völligen Zusammenbruchs versetzen kann. Ärzt*innen füllen diese sprachliche Leerstelle mit ihrem eigenen, ME/CFS negierenden Begriffsapparat und deuten das Erlebte als Übertreibung oder psychische Instabilität. Selbst die Verwechslung der allumfassenden Fatigue mit bloßer Erschöpfung oder gar Müdigkeit verweist auf eine hermeneutische Lücke. Das, wofür es keine Worte gibt, existiert für andere nicht.
Eine Patientin erzählt, wie ihr Arzt nach einem kurzen Gespräch entschied, sie solle wieder Sport treiben – obwohl sie bereits nach einem Spaziergang wochenlang bettlägerig war. Ein anderer Patient berichtet, wie die Versicherung seine Erwerbsunfähigkeit ablehnte, mit der Begründung, Fatigue sei ein unspezifisches Symptom. Wo den Worten der Kranken misstraut wird, weil akzeptierte Bezeichnungen fehlen und Anstrengungen zur Etablierung gezielt untergraben werden, fehlt jede Verpflichtung zur Anerkennung. Und solange man ihnen nicht glaubt, bleibt ihr Leiden ohne Konsequenz.
Die Folgen des sozialen Todes
Das gezielte Unsichtbarmachen durch die Worte der anderen, der Teufelskreis der falschen Zuordnungen und das Fehlen der Worte der Betroffenen – drei Faktoren, die zum sozialen Tod ME/CFS-Kranker beitragen. Doch was folgt für sie daraus, sozial tot zu sein? Ein unweigerliches Resultat ihres Nicht-Status besteht darin, dass Menschen mit ME/CFS vom Zugang zu grundlegenden Ressourcen weitgehend ausgeschlossen sind. Für sie gibt es kaum medizinische Versorgung, Anerkennung im Sozialsystem oder gar politische Repräsentation. Allgemeiner ausgedrückt: Es gibt keine auf ME/CFS-Betroffene eingestellte Infrastruktur, keine auf sie abgestimmten administrativen Prozeduren und keine vorgesehenen Wege der Artikulation. Die ME/CFS-Kranken haben letztlich nur sich selbst und ihre individuellen Unterstützer*innen. Sie existieren in weiten Teilen in einem institutionellen Vakuum jenseits der Gesellschaft.
Eine weitere mögliche Folge des sozialen Todes ist der anfangs erwähnte körperliche Tod. Aufgrund des gesellschaftlichen Nicht-Status und des damit verknüpften Ausschlusses von grundlegenden Ressourcen besteht die Gefahr, dass sich der Tod bei ME/CFS-Betroffenen früh und in persönlicher Isolation ereignet. Wer zu Lebzeiten in einem institutionellen Vakuum existiert und nicht als Angehörige*r einer anerkannten Gruppe gilt, wird auch am Ende des Lebens mit keiner stützenden Identität in Verbindung gebracht. Aus gesellschaftlicher Perspektive sind die ME/CFS-Toten daher bloß unbezeichnete, kontextlose, wertlose und leblose Körper. Dieser Zustand totaler Vereinzelung und maximaler Entfremdung ist es, der sie ein letztes Mal in ihrer menschlichen Würde missachtet.
Worte des Lebens
Was braucht es, damit ME/CFS-Kranke nicht länger dem sozialen Tod ausgesetzt sind?
Worte sind nicht nur Ausdruck von Macht, sie sind auch ihr Werkzeug. Menschen mit ME/CFS fehlt ein Status als Gruppe – und damit die Möglichkeit, überhaupt gehört, geschützt und vertreten zu werden. Ohne Worte, die ihre Wirklichkeit fassbar machen, bleiben sie sprachlos im existenziellen Sinne.
Deshalb ist eine zentrale Voraussetzung für Veränderung: ME/CFS-Betroffene müssen als das bezeichnet werden, was sie sind – Kranke, deren Krankheit real ist, deren Leiden legitim ist, deren Existenz zählt. Die Gesellschaft muss ihnen Worte zugestehen, die Leben ermöglichen. Keine Worte, die unsichtbar machen, beschwichtigen oder psychopathologisieren. Es braucht “Worte des Lebens” statt “Worte des Todes”.
Doch auch Worte allein reichen nicht. Damit sie wirksam werden, brauchen sie Resonanzräume: Plattformen, auf denen Betroffene sprechen und gehört werden. Medien, die ihre Geschichten erzählen – nicht als isolierte Schicksalsschläge, sondern als Ausdruck kollektiver Erfahrung. Forschung, die ihre Erfahrungen als valide Wissensquelle einbezieht. Versorgungssysteme, die zuhören, anstatt zu belehren.
Denn um eine Gruppe zu sein, reicht es nicht, gemeinsam zu leiden. Eine Gruppe entsteht, wenn sie als solche bezeichnet wird. Erst langsam, mit zunehmender öffentlicher Aufmerksamkeit und einem vereinzelt wachsenden Wissensstand innerhalb der Medizin verbreiten sich Worte für die Kranken. Aber nur wenn sie als glaubwürdige Sprecher*innen anerkannt worden sind, wird sich auch die Versorgungslage substanziell verbessern. Und so bleibt vorerst das Erleben einer Welt gegenüberzustehen, die ihre Worte nicht versteht.
Erstelle deine eigene Website mit Webador