Weder "Vermeider" noch "Durchhalter"
Ein psychosomatisches Schema verfehlt die Problemsituation bei Post COVID und ME/CFS
🗓️ 25.10.2025
Der Psychosomatiker Volker Köllner behauptet, dass Post-COVID- und damit auch ME/CFS-Kranke entweder "ängstliche Vermeider" oder "fröhliche/verbissene Durchhalter" seien. Seine These: Sie tun "zu wenig" oder "zu viel", und zwar aufgrund ihrer charakterlichen Eigenschaften. Eine Replik.
Das Vermeider-Durchhalter-Schema erfüllt zwei Funktionen. Erstens verortet es Post COVID und ME/CFS im Kontext des persönlichen Verhaltens. Das Schema soll mithin den Umstand legitimieren, dass sich die Psychosomatik überhaupt mit diesen biologischen, meist post-viralen Krankheiten befasst.
Zweitens postuliert das Schema, dass zwingend eine "ärztliche Beratung" erforderlich sei, damit die Betroffenen nicht weiterhin ihrem Vermeider-Durchhalter-Verhalten erliegen. Diese Annahme soll die Tätigkeit psychosomatischer Reha-Kliniken, von denen Volker Köllner eine leitet, rechtfertigen.
Neben diesen äußeren Funktionen des Schemas stellt sich die Frage nach seiner inhaltlichen Stichhaltigkeit. Meine Antwort: Die Begriffe "ängstliche Vermeider" und "fröhliche/verbissene Durchhalter" gehen an der Sache vorbei. Es sind Fremdzuschreibungen, die die Problemsituation nicht angemessen erfassen.
Der Begriff "ängstliche Vermeider" besagt, dass Personen Handlungen wegen eines negativen Gefühls – der Angst – nicht vollziehen. Die Ursache der Angst sei, dass die Personen unbegründeterweise von schlimmen Konsequenzen dieser Handlungen ausgehen, sie also zum "Katastrophisieren" neigen.
Meine Sichtweise nach mehreren Jahren ME/CFS: dies ist unzutreffend. Wenn ich Handlungen umgehe, die mit Blick auf die Krankheit eine Rolle spielen, dann tue ich dies aufgrund der vielfachen Erfahrung, dass sie mir schaden. Der Schlüsselbegriff hierbei lautet post-exertionelle Malaise, PEM.
Anhand zahlreicher Erlebnisse weiß ich: wenn ich Aktivität A ausführe, löse ich damit eine Zustandsverschlechterung aus. Ich lande in einer PEM, die meine Gesundheit dauerhaft weiter herabsetzen kann. Deswegen bemühe ich mich darum, ohne diese Aktivität auszukommen oder sie zu reduzieren.
Die Motivation für dieses Verhalten ist jedoch kein Gefühl, sondern eine rationale Abwägung. Die Gewissheit, dass Aktivität A eine PEM hervorrufen würde, führt zu der Entscheidung, A zu unterlassen. Ein Mensch, der sich auf diese Weise verhält, ist kein "ängstlicher Vermeider". Er ist vernünftig!
Im Gegensatz zum "ängstlichen Vermeider" unterstellt der Begriff "fröhlicher/verbissener Durchhalter" ein Verhalten, das selbst dann in hoher Intensität fortgesetzt wird, wenn keine Ressourcen dafür vorhanden sind. Ein solches Verhalten münde ebenso in die "Chronifizierung" der Krankheit.
Meine persönliche Erfahrung ist, dass auch dieser Begriff die Problemsituation bei ME/CFS verfehlt. Ja, im Rahmen des Pacings ist es extrem herausfordernd, sich rechtzeitig zu bremsen und wie oben beschrieben die PEM zu verhindern. Ja, es besteht die Gefahr, weiterzumachen, wenn es schadet.
Doch wann und warum ist dies so? Sind die Betroffenen "Durchhalter"? Die entscheidende Tatsache ist: Die Abwesenheit von Energie ist bei ME/CFS der Normalfall, anhaltende Entbehrung die Folge. Das seltene Vorhandensein von Energie eröffnet Handlungsmöglichkeiten, die ansonsten nicht gegeben sind.
Wenn ich ein rares Quäntchen Energie verbrauche und sogar über das enge Limit hinausgehe, dann ist das kein obsessives "Durchhalten". Es ist Ausdruck des ungeheuer starken Wunsches, Dinge nachzuholen, zu gestalten, zu bewirken, sich mit anderen Menschen zu verbinden. Es ist der Wunsch nach Leben!
Wer mich als "Vermeider" oder "Durchhalter" psychopathologisiert, hat meine Krankheit nicht verstanden. Er begreift nicht, wie es ist, in den physischen Grenzen von ME/CFS zu existieren. Er stülpt mir ein Burnout-Klischee über, das in das festgezurrte Narrativ passt. Er spricht nicht über mich.
Mein Tipp an alle Psychosomatiker*innen: Hört den Kranken zu, bevor ihr sie in eure Lehrbuch-Kästchen steckt. Lernt von ihnen, anstatt zum eigenen Vorteil Vorurteile zu verbreiten. Und dann: reflektiert, ob ihr zu Post COVID und ME/CFS überhaupt etwas Sinnvolles beizutragen habt.
Anhang
Bildbeschreibung
Folie aus einer Präsentation von Volker Köllner zur Behandlung des Post-COVID-Syndroms:
"Fröhliche / verbissene Durchhalter" und "ängstliche Vermeider" leiden unter "Chronifizierung".
"Ärztliche Beratung" führt dagegen zu "Beschwerderückgang". Die Beratung besagt:
- "KEIN übermäßiges Schonverhalten"
- "KEINE Überanstrengung"
- "aus kurzfristigen Verschlechterungen lernen"
- "vorübergehende Einschränkungen akzeptieren
Quelle der Grafik
https://www.deutsche-rentenversicherung.de/Bund/DE/Presse/Presseseminare/2023-05-11-12-berlin/05-12-praesentation-koellner.pdf (Stand 25.10.2025)
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