Von der „Frauenkrankheit“ zur Selbstoptimierung

Das biopsychosoziale Modell als Machtinstrument zur Neoliberalisierung und Entpolitisierung von ME/CFS

🗓️ 23.4.2025

Autorin: Mirja



Eine tragbare, leuchtende Lampe steht auf einem gepflasterten Untergrund im Dunkeln. Hinter der Lampe befindet sich Dampf oder Rauch.

Das biopsychosoziale Modell gilt in der Gegenwart als progressiver Ansatz für eine ganzheitliche Betrachtung von Krankheit, der den Anspruch hat, biologische, psychologische und soziale Faktoren zu berücksichtigen. Doch vor allem in seiner Anwendung bei ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) wird das Modell seit vielen Jahren scharf kritisiert und für die Stigmatisierung der Krankheit verantwortlich gemacht. Das Modell steht unter anderem den Vorwürfen gegenüber, nicht neutral zu sein und psychologische Faktoren zuungunsten biomedizinischer Erkenntnisse überzubetonen sowie gesellschaftliche Einflussgrößen zu verzerren. Eingebettet in die Geschichte von ME/CFS, die durch eine Stigmatisierung als „Frauenkrankheit“ geprägt ist, fungiert es als Übergang zwischen einem sexistischen Paradigma zu einem neoliberal-ableistischen Gesundheitsdiskurs, in dem Krankheit individualisiert und die Verantwortung dafür von der kollektiven Ebene ins Private übertragen wird.

 

ME/CFS tritt häufig nach Virusinfektionen auf und betrifft überwiegend Frauen. In der Medizingeschichte wurden einschlägige Symptomatiken als „Hysterie“ oder „Neurasthenie“ zusammengefasst und herabgewürdigt. Dabei handelte es sich schließlich nicht nur um medizinische Diagnosen, sondern um gesellschaftliche Machtinstrumente, die weiblich konnotiertes Leiden als „irrational“ entwerteten oder später als psychosomatisch klassifizierten und zur Unterdrückung von Frauen dienten. Das biopsychosoziale Modell hat diese Zuschreibungen nicht überwunden, sondern neu besetzt. In vielen Leitlinien und Therapieempfehlungen wurde ME/CFS als funktionelle (psychosomatische) Störung beschrieben, die vor allem auf subjektivem Krankheitsempfinden beruhe und sich durch negative Krankheitsüberzeugungen auszeichne. Dies suggerierte, dass Betroffene weitgehend für die Erkrankung selbst verantwortlich seien.

 

In der Praxis hat dies die Wahrnehmung der Krankheit bis heute beeinflusst. Menschen mit ME/CFS erhalten im Rahmen des biopsychosozialen Modells psychosoziale Therapieempfehlungen, wie etwa kognitive Verhaltenstherapie und körperliche Aktivierungstherapie. Diese implizieren: Wer sich richtig verhält und an sich selbst arbeitet, kann von der Krankheit genesen. Gesundheit wird somit zur Frage einer individuellen Disziplin. Dabei handelt es sich um ein neoliberal-ableistisches Narrativ. Während strukturelle Faktoren wie fehlende Forschung, prekäre Versorgung und Stigmatisierung ausgeblendet werden, wird die medizinische Verantwortung auf die erkrankte Person selbst verlagert. Krankheit ist nicht länger ein gesellschaftliches Problem, sondern individuelles Versagen.

 

Das biopsychosoziale Modell drängt Menschen mit ME/CFS in die Position „unwilliger, nicht mitarbeitender Patient*innen“: Wer sich nicht verbessert, bemüht sich nicht ausreichend. Dieser Druck zur Selbstoptimierung und Positivität ist vor allem vor dem Hintergrund der post-exertionellen Malaise – dem Leitsymptom der Erkrankung – schädlich, da jede Überlastung zu einer Zustandsverschlechterung führt. Das biopsychosoziale Modell übergeht die Krankheitsrealität und richtet den Blick stattdessen darauf, wie Patient*innen sich verhalten sollen. Wer nicht in das Bild einer stetigen Leistungsverbesserung passt, wird marginalisiert. Somit ist das Modell für massives körperliches und psychisches Leid der Betroffenen ursächlich. Immer wieder kommt es zu Todesfällen, etwa durch Verhungern, weil Menschen mit ME/CFS auf Grundlage vermeintlich fehlender Mitwirkung medizinische Versorgung vorenthalten wird.

 

Scheint das biopsychosoziale Modell in der Theorie zunächst als medizinischer Fortschritt gegenüber sexistischen Erklärungen der Krankheitsentstehung, wird jedoch in der Wirklichkeit deutlich, dass es alte, geschlechtsspezifische Stigmatisierungen nur in moderne, individualisierte Zuschreibungen übersetzt und ME/CFS zur Aufgabe des persönlichen Managements werden lässt. Statt kollektive Verantwortung und strukturelle Probleme sichtbar zu machen, wird das Leiden der Betroffenen privatisiert. Damit verkommt das biopsychosoziale Modell von einem vermeintlich progressiven, ganzheitlichen Ansatz zu einem Instrument der Entsolidarisierung und Entpolitisierung chronischer Krankheit, das nicht mehr nur Frauen unterdrückt, sondern all diejenigen, die nicht länger den konventionellen Vorstellungen ökonomischer Leistungsfähigkeit entsprechen.

 

Zu erwarten ist, dass das biopsychosoziale Modell auch im Kontext post-neoliberaler Entwicklungen eine gravierende Gefahr bedeutet: die radikale Ablehnung gesellschaftlicher Fürsorge gegenüber chronisch kranken Menschen. Während im Neoliberalismus zumindest noch die Wiederherstellung von Arbeitsfähigkeit ein funktionales Interesse an Erkrankten implizierte, droht in einer post-neoliberalen Ordnung die völlige Individualisierung des Leidens. Wer dem androzentrisch geprägten moralischen Ideal körperlicher Leistungsfähigkeit nicht entspricht, wird insbesondere mit einer energielimitierenden Erkrankung wie ME/CFS isoliert und letztlich bewusst ausgeschlossen bleiben. Die Marginalisiertesten – jene, die sich nicht selbst versorgen können – drohen in einem System fehlender Fürsorge vollständig übergangen zu werden.