Ein gefährliches Buch

Wie ich nach dem Beginn meiner Erkrankung  meine Gesundheit aufs Spiel setzte


Ein aufgeblättertes Buch liegt auf einem Holz-Untergrund

Das erste Buch, das ich als Betroffener 2019 über ME/CFS las, war der Band "Chronic Fatigue Syndrome" des Autors Michael Sharpe. Dieses Buch brachte mich in Gefahr, doch glücklicherweise bemerkte ich dies einige Zeit später. Was war geschehen?

 

Ich war erst kurz zuvor auf ME/CFS gestoßen und hatte keine Vorkenntnisse. Sharpe empfahl in diesem Buch ein stufenweises körperliches Training (GET), um eine schwere Erschöpfung zu überwinden. Dieses Training sollte ggf. durch Psychotherapie & Psychopharmaka ergänzt werden.

 

Dieser Ansatz erschien mir plausibel, denn er ähnelte dem, was ich in zu dem Krankheitsbild "Burnout" gelesen hatte. Auch dort war der Tenor: kontrollierte körperliche Aktivität hilft bei der Verbesserung. Mir war außerdem bekannt, dass Rehas nach diesem Prinzip arbeiteten.

 

Was mich merkwürdigerweise nicht stutzig machte, war der Sachverhalt, dass es sich bei dem Autor Michael Sharpe um einen Psychiater handelte. In gewisser Weise passte es ja sogar zu dem "psychologisch" geprägten Ansatz, der in dem Buch vertreten wurde.

 

Zudem erschien das Buch in einer Reihe mit dem Titel "The Facts". Aber da ich den Kontext nicht kannte, fiel mir nicht auf, dass die bereits damals vorhandene biomedizinische Forschung zu ME/CFS ignoriert bzw. abgetan wurde. Ein ganzer Bereich von Fakten fehlte.

 

Ebenfalls war mir unbekannt, dass Sharpes "PACE"-Studie, in der der Erfolg des beschriebenen Therapieansatzes belegt werden sollte, sich nach ihrer Veröffentlichung als fehlerhaft herausgestellt hatte und heftig kritisiert worden war.

 

Da mir ein Arzt vor Ort nach der Schilderung meiner Krankheitssymptome nahegelegt hatte, ich solle doch Joggen oder Schwimmen gehen, gewann dieser Behandlungsansatz zusätzlich an Überzeugungskraft.

 

Auf Empfehlung von Arzt und Buchautor versuchte ich es also mit kontrolliertem körperlichem Training. Es entsprach auch meinem Charakter, mich auf diese Weise aus einer Problemlage herauszuarbeiten. Und der Wunsch nach einer Lösung war stark.

 

Aber es funktionierte nicht. Ganz und gar nicht. Nach den vorsichtig geplanten Trainingseinheiten verschlechterte sich mein Zustand mit einer Verzögerung von jeweils einem Tag deutlich.

 

Das war keine normale Erschöpfung, wie sie jeder nach körperlichen Aktivitäten kennt. Das war kein "Muskelkater", wie er bei jedem Training vorkommen kann. Das war pathologisch. Und vor allem: es gab keinen Trainingseffekt im Sinne eines Leistungsaufbaus. Es ging nach unten.

 

Nach einiger Zeit zog ich die Reißleine. Es war schwierig. Ich hatte bemerkt, dass dieser Ansatz mir nicht half. Aber zugleich stand ich wieder völlig ohne Perspektive da. Alternativen kannte ich nicht und mein Arzt erst recht nicht.

 

Trotz des schädlichen Buchs von Sharpe recherchierte ich weiter zu ME/CFS und stellte fest, dass es viel mehr Wissen zu dieser Krankheit gab. Das Buch, auf das ich gestoßen war, war nur ein schlechter Einstieg in dieses Thema gewesen.

 

Ich las weitere Bücher und Internetbeiträge von Medizinern und Betroffenen und erkannte, dass die dortigen Beschreibungen viel besser auf meine Situation zutrafen. Die Krankheitssymptome und -mechanismen, die dort dargestellt wurden, entsprachen meinen persönlichen Erfahrungen.

 

Mit Begriffen wie "Post-Exertional Malaise" (PEM) hatte ich nun ein Vokabular, das meine Symptome und mein Erleben angemessen wiedergab. Erst jetzt erfuhr ich, dass es bereits Forschung und Theorien zu den biomedizinischen Abläufen gab, die hinter diesen Symptomen stehen.

 

All dieses Wissen hatten weder Michael Sharpe noch mein Arzt gekannt bzw. nutzbar gemacht. Durch einen für mich ungeeigneten Behandlungsansatz war ich in Gefahr geraten. Zum Glück hatte ich dies nach einer Zeit erkannt.

 

Ein Happy End gibt es leider nicht, denn ME/CFS ist nach wie vor nicht gezielt heilbar. Aber immerhin habe aufgehört, meiner Gesundheit weiter aktiv zu schaden. Ich trainiere nicht mehr gegen mein Körpergefühl an, sondern höre auf meinen Körper.

 

Ich beachte meine jeweiligen Leistungsgrenzen und versuche, diese nicht zu überschreiten (Pacing). Dadurch wird immerhin ein besserer Umgang mit der Krankheit und ein gewisser Gewinn an Lebensqualität möglich.

 

ME/CFS bleibt eine schwere Erkrankung, aber in dem Wunsch nach Heilung sollte man sich nicht von vermeintlichen Autoritäten leiten lassen, sondern immer reflektieren, was deren vermeintliche Lösungsansätze mit einem selbst zu tun haben. Und nach besseren Wegen suchen.

 

Man selbst kennt sich viel besser, als Buchautoren und Ärzte es jemals können.

 

Danke fürs Lesen und alles Gute!