Der Fall ins Nichts

Was dir geschehen kann, wenn du an ME/CFS erkrankst

🗓️ 19.11.2023

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Eine gemalte Person fällt einen Abgrund hinab

Stell dir vor, du hast eine Virusinfektion: Influenza, Corona oder Epstein-Barr. Die Erkrankung verläuft zunächst normal, die akute Infektion ist überstanden. Erst zurück bei der Arbeit passiert es: deine Gesundheit bricht ein. Du weißt noch nicht, was du hast: MECFS.

 

Du spürst, wie sich dein Körper verändert. Nach jeder Aktivität fühlst du dich vollkommen platt. Bleierne Fatigue, ein Krankheitsgefühl wie bei einer Grippe. Deine Leistungsfähigkeit sinkt massiv ab, Woche für Woche kannst du weniger und weniger machen.

 

Dein Herz-Kreislauf-System spielt verrückt. Dir ist schwindelig, du hast Tinnitus. Deine Muskeln brennen und schmerzen schon nach leichtem Gebrauch. Auch geistige Tätigkeiten werden mühsamer, es fällt dir schwer, dich zu konzentrieren.

 

Du versuchst, weiter zu funktionieren. Familie, Freunde und Kollegen brauchen dich. Du schleppst dich zur Arbeit, möchtest dein Leben weiterleben. Doch dann fühlst du: es ist nur noch eine Simulation, es geht nicht mehr. Du ziehst die Notbremse.

 

Dein Hausarzt schreibt dich krank, hilft dir aber sonst nicht weiter. Dein "Blutbild" ist "normal", die anderen Befunde "unauffällig". Der Facharzt sagt dir das Gleiche. Standarduntersuchung fertig, einmal abrechnen, der Nächste bitte!

 

Dass dein Problem weiterbesteht, scheint den Ärzten egal zu sein. Kein Befund, keine Diagnose, keine Hilfe. Niemand kennt sich aus, keiner übernimmt Verantwortung. Nie gehört, kam im Studium vor 30 Jahren nicht dran, Fall erledigt.

 

Aus Familie und Bekanntenkreis bekommst du dagegen von nah und fern Spekulationen und wildeste "Diagnosen" an den Kopf geworfen. "Das ist die Frühjahrsmüdigkeit, die hab ich eh immer!" "Das ist Burnout, das hatte meine Kollegin auch!"

 

Unzählige Ratschläge, wie du gesund wirst, erhältst du ebenfalls. Geh mal Joggen! Mehr frische Luft! Yoga wird es richten! Globuli! Ohrenkerzen! Nur leider hat all das sehr wenig mir dir und sehr viel mit den Vorurteilen und dem Wunschdenken deiner Ratgeber zu tun.

 

Ein Jahr später: deine Leistungsfähigkeit ist bei desolaten 20% deines gesunden Niveaus angelangt. Eine Katastrophe. Ein Desaster. Deine Wohnung kannst du nur noch zu seltenen Anlässen verlassen und bezahlst dies mit einer drastischen Verschlechterung deines Zustands am Folgetag.

 

Die Arbeit hast du längst gekündigt, als du einsehen musstest, dass sich deine Gesundheit nicht wie zunächst gehofft bald wieder verbessern würde. Aber die Rechnungen flattern weiter unerbittlich ins Haus. Dein Bankkonto leert sich, deine materielle Zukunft hängt am seidenen Faden.

 

Deine ehemaligen Freunde und Kollegen haben sich nach und nach abgewandt, unbeholfen und überfordert, auf dich und deine Situation einzugehen. Drei, vier mal haben sie dich noch gefragt, ob du mitkommst, dann warst du weg vom Fenster, unsichtbar.

 

Wenn du Glück hast, hast du eine Partnerin, die dich liebt und zu dir hält. Wenn Du Pech hast, lässt sie dich sitzen, und du bist endgültig auf dich gestellt. Alles kann wegbrechen, jederzeit. Das muss er wohl sein, der "sekundäre Krankheitsgewinn", von dem die Ärzte faseln!

 

Durch Zufall bemerkst du in einer Lokalzeitung einen Artikel über einen schwerkranken jungen Mann. "MECFS" hat er. Was ist das? Du gehst ins Internet, holst dir Informationen, liest dich ein. Kurze Zeit später stellst du fest: verdammt, das ist meine Krankheit!

 

Dein Wissen wächst schnell, bald weißt du um ein Vielfaches mehr als alle von dir konsultierten Ärzte zusammen. Du tauschst dich mit Betroffenen aus, ihre Erfahrungen ähneln sich stark. Es tut gut, festzustellen, dass andere das Gleiche erleben.

 

Du findest Wege, etwas besser mit deinen Einschränkungen umzugehen, lernst Pacing. Es hilft dir, deine extrem knappe Energie im Alltag einzuteilen, aber gesund wirst du davon wahrscheinlich nicht. Entsetzt stellst du fest: die Anzahl der zugelassenen Medikamente gegen MECFS beträgt 0!

 

Wenn du noch Geld und gute Kontakte hast, gibt es experimentelle Behandlungsversuche auf eigenes Risiko und mit unzuverlässigem Nutzen. Das Kassen-Gesundheitssystem ist zunehmend irrelevant für dich, weil du von dieser Seite ohnehin keine Hilfe erhältst.

 

Während du in deinem persönlichen Umfeld um Anerkennung kämpfst, drängen sich irgendwelche von der internationalen Forschung abgehängten Provinz-Mediziner in die Öffentlichkeit und geben ihre hanebüchenen Meinungen zum Besten.

 

"Wir finden bei MECFS-Patienten nichts! Es muss ein Problem der Psyche sein!", tönen sie in grenzenloser Eitelkeit und unter atemberaubender Missachtung wissenschaftlicher Standards, diagnostischer Logik und der Situation der Betroffenen.

 

Dass den Patienten durch "Aktivierungstherapien" und "psychosomatische" Reha-Maßnahmen sogar Schaden zugefügt werden kann: Nebensache. Hauptsache: so weitermachen wie immer, Geld verdienen und nichts dazulernen!

 

Bei dieser Farce gibt es am Ende einen sicheren Verlierer: dich! Denn diese an der Seitenlinie stehenden Wichtigtuer werden dir nicht helfen. Du sitzt in deinem Scherbenhaufen, und das ist ihnen ganz egal.

 

Auch deine Hoffnung, es würde politisch Unterstützung angestoßen, die die Kranken erreicht, wird immer kleiner. Wenn eine weltweite Pandemie nicht ausreicht, um MECFS dauerhaft auf der politischen Agenda zu verankern – was dann? Wie viel Leid muss noch geschehen?

 

Politiker, die es schaffen, fachkundige Anlaufstellen und elementare Versorgung für die Betroffenen auf den Weg zu bringen: Fehlanzeige. Mit MECFS gibt es für Politiker keinen Blumentopf zu gewinnen, damit ist das Thema für die meisten von ihnen durch.

 

Neben deinem gesundheitlichen Ruin ist das die andere tiefe Erfahrung bei MECFS: Du kannst dich auf Institutionen und angebliche Autoritäten nicht verlassen. Denn sie erklären sich für "nicht zuständig", haben keine Ahnung und können und wollen nichts für dich tun.

 

Und so bist du, während du ins Nichts fällst, mit der Krankheit und den wenigen Menschen, die dir geblieben sind, allein. Damit musst du ebenso wie mit deinem Zustand als körperlichem Wrack irgendwie klarkommen. Hast du die mentale Kraft dafür? Wie lange hältst du durch?

 

MECFS ist eine Geschichte mit ungewissem Ausgang. Vielen geht es im Lauf der Zeit schlechter, wenigen besser. Und es gibt ein Auf und Ab. Egal, was noch passieren wird: die Erfahrungen, die du mit dieser Krankheit und ihren Folgen gemacht hast, werden den Rest deines Lebens überschatten.



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