Das Preisschild und seine Folgen

Die härtesten Konflikte um ME/CFS stehen möglicherweise noch aus

7.12.2025 | Autor: Waldmeer



Je besser ME/CFS erforscht ist, desto unerbittlicher könnten die Widerstände gegen die Anerkennung dieser Krankheit werden. Warum? Weil dann immer klarer ersichtlich wird, welcher Betrag auf dem Preisschild für eine Versorgung von ME/CFS steht – und wer diese Kosten zu tragen hätte.

 

Derzeit erhalten fast keine ME/CFS-Kranken eine medizinische oder soziale Unterstützung, die auf ihre Krankheit zugeschnitten und deren Schwere angemessen ist. Aus der Sicht potenzieller Kostenträger – Staat, Versicherungen usw. – ist dies eine finanziell äußerst bequeme Situation.

 

Dadurch, dass die medizinische Infrastruktur nicht vorhanden ist, Diagnosen nicht gestellt werden, Medikamente nicht zugelassen sind sowie ME/CFS in Gutachten und bei Ämtern keine materielle Hilfe begründet, werden gigantische Summen gespart. Die meisten Kranken kosten – als ME/CFS-Kranke – nichts.

 

Ein Ansatzpunkt zur Veränderung dieses menschenverachtenden Zustands ist der wissenschaftliche Fortschritt. Aus Forschung und klinischer Erfahrung könnten sich auf Dauer immer konkretere Behandlungen und Versorgungsmodelle für immer mehr ME/CFS-Patient*innen ableiten lassen – sowie der Preis dafür.

 

Sicher ist bereits heute: Dieser Preis würde für die Kostenträger SEHR VIEL höher sein als der Preis des jetzigen de-facto-Vorgehens, das sich oft in einer Nicht-Behandlung oder in Elementen wie nicht-funktionierender psychosomatischer Grundversorgung und nicht-funktionierender "Reha" erschöpft.

 

Spätestens beim Anblick dieses Preisschilds würden sich die Akteure, die im Sinne ihrer Partikularinteressen von der gegenwärtigen Nicht-Versorgung profitieren, massiv dagegen wehren, ihren Anteil beizutragen. Innerhalb der Finanzierungssysteme würde es zudem heftige Verteilungskonflikte geben.

 

Die Widerstände gegen die Anerkennung von ME/CFS könnten also paradoxerweise dann am größten sein, wenn das Wissen am größten ist. Die Leugnung, das Gaslighting, das Kleinreden, die pseudowissenschaftliche "Dekonstruktion" des Wissens – all das könnte eine völlig neue Dimension erreichen.

 

Ebenfalls würde es Vorstöße geben, möglichst umfangreiche Patient*innen-Teilgruppen von der Versorgung auszuklammern. Dies könnte beispielsweise ME/CFS-Kranke betreffen, die von vorhandenen diagnostischen Biomarkern nicht erfasst werden. Das Ziel: Versorgung verhindern, verzögern, minimieren.

 

Dieses Szenario verdeutlicht: Mehr Forschung über ME/CFS ist sehr wichtig – aber sie ersetzt den Kampf um Anerkennung und Versorgung nicht. Genauso, wie ME/CFS ein wissenschaftliches und medizinisches Problem ist, ist es ein gesellschaftliches und politisches Problem.

 

In Bezug auf ME/CFS herrscht bereits innerhalb der Wissenschaft ein starker Gegenwind. Doch außerhalb der Wissenschaft wird dieser Gegenwind größer und die Bandagen härter. Allgemeiner Sozialkahlschlag und wachsende kulturelle Wissensfeindlichkeit verschärfen die Rahmenbedingungen zusätzlich.

 

Die Entscheidung, ME/CFS-Kranke zu versorgen, basiert letztlich nicht auf Wissen, sondern auf dem Willen, diese Menschen menschenwürdig zu behandeln, und der Macht, dies tun tun. Wille und Macht entstehen nicht durch Wissen (allein), sondern sind gesellschaftlich und politisch bestimmt.

 

Vor diesem Hintergrund wird es nicht reichen, zu hoffen, dass aus mehr Wissen auf rationale Weise mehr Versorgung resultiert. Die gesellschaftliche und politische Dimension von ME/CFS sollte strategisch einbezogen werden, um kommende Konflikte auf diesem Gebiet im Interesse der Kranken zu meistern.



Zum Weiterlesen


Versorgungsillusionen

Die meisten ME/CFS-Kranken erhalten im Gesundheitssystem keine Hilfe


Wir könnten JETZT anfangen

Am Beginn der ME/CFS-Versorgung steht nicht Forschung, sondern Wille


Erstelle deine eigene Website mit Webador